Reisetag 7: Kibo Hut - ... - Horombo Hut

Gibt es lose Ziegel auf dem Dach Afrikas?

Start: Kibo Hut 4.750m ü.NN (00:15 Uhr)

Ziel: Horombo Hut 3.720m ü.NN (16:15 Uhr)

Es ist 23:30 Uhr, jetzt beginnt endgültig und unausweichlich der Ernst des Lebens hier am Kilimanjaro. Der Aufstieg an den Kraterrand am Gillman’s Point auf 5.681m ü.NN und anschließend vielleicht weiter zum höchsten Punkt des Kibo, dem Uhuru Peak auf 5.895m ü.NN (Tansanische Höhenberechnung, sonst gelten immer 5.892m), steht an. Ein monatelange Warten hat endlich sein Ende gefunden.

Gestartet wird die Gipfeletappe am Kilimanjaro meist um Mitternacht, um bei gefrorenem Lavaschotter den steilen Aufstieg in Angriff nehmen zu können. Mit 80% Durchschnittssteigung des Geländes wäre bei aufgetautem Lavaschotter der Aufstieg sonst noch anstrengender. Es sind auf der Karte zwar kaum 3km bis zum fast 1000m höher gelegenen Kraterrand, aber 6 Stunden wird es wohl mindestens bis dorthin dauern, auch wenn Fransis beim abendlichen Briefing von utopischen 4 Stunden ausgeht. Nur ob man den Kartenkilometern glauben darf? In der Karte sind die Entfernungen ja üblicherweise parallel projeziert, hier sind es aber gut 80% Steigung, sodass es in Wirklichkeit sicherlich 1-2km mehr sein werden als die Karten vermuten lassen.

Nach dem Aufstehen steht zunächst die Ankleideprozedur im Zelt für den Aufstieg an, es kann beim Aufstieg in ungeahnte Höhen verdammt kalt werden. So gibt es heute erstmals den langen Liebestöter als Ausrüstung, auch die Socken werden winterhart. Über den Liebestöter und die Berghose gesellt sich dann auch noch die Regenhose als zusätzlicher Windschutz. Bei der Oberbekleidung gibt es zum Kurzarmhemd den dünnen Fleece-Pullover, meine Daunenjacke und darüber die Gore-Tex-Jacke. Neben den Fingerhandschuhen werde ich dann auch darüber noch ein Paar Daunenfäustlinge tragen. Die Ersatzakkus für Kamera und Stirnlampe werden aus Wärmegründen in den körpernahen Kleidungschichten versteckt und meine Thermoskanne kann nun endlich einmal beweisen, was in ihr steckt, nachdem sie ihren heißen Tee erhalten wird. Auch die Sigg-Flasche erhält ihre Zusatzisolierung und heißes Wasser dazu. Man muss beim nächtlichen Aufstieg zum Kraterrand mit Temperaturen bis unter -20°C rechnen, also auch mit Wasser in Würfelform in den Flaschen. Als eventuelle Zwischenverpflegung, eine Essmöglichkeit gibt es erst wieder an der Hütte hier und das kann u.U. erst in mehr als 12 Stunden sein, müssen 4 Esstrink-Gels und eine Tafel Schokolade herhalten. Trekkingstöcke habe ich keine und will auch keine benützen.

Angesichts der erhöhten Anzahl von Kleidungsschichten meinerseits verlasse ich mein Zelt als eine neu geschaffene Art von einem Michelin-Männchen. Die Temperaturen außerhalb des Zeltes kann ich schlecht einschätzen. Mein kleines Thermometer im Gepäck finde ich schon seit Tagen nicht und gefühlsmäßig ist es nicht so kalt wie eigentlich befürchtet. Folglich verzichte ich noch bis zum Start des Aufstiegs darauf, den Reißverschluss der Windjacke zu verschließen.

Nach dem Gang zur Toilette steht die Pulsoxymetermessung an (eine Messung in Ruhe wäre Blödsinn), der Wert (unter Last!) liegt bei für diese Höhe sehr beruhigenden 86% Sauerstoffsättigung. Meine Gedanken sind absolut klar, keine Kopfschmerzen oder ein Unwohlsein ist im Anmarsch, nur der Raster der Handbremse bei meiner Höchstgeschwindigkeit hat wieder um mindestens eine reduzierende Rasterung mehr zugeschlagen.

Nicht ganz schlüssig bin ich bei der Körperhaltung eines in voller Aufstiegsmontur bekleideten Bergsteiger mitten auf dem Vorplatz zur steinernen Kibohütte. Aufgrund seiner etwas eigenwilligen Körperhaltung könnte man fast meinen, er ist auf dem Weg der Entscheidungsfindung, ob er denn nun einen Hexenschuß oder doch einen Bandscheibenvorfall hat. Seine doch relativ entspannten Gesichtszügen deuten aber doch mehr auf eine besondere Form von Entspannungsübung hin. So hat doch jeder seine eigene Art von Konzentration auf das in den nächsten Stunden Anstehende.

Sind die dringendsten Geschäfte erledigt, folgt das von vielen als Henkersmahlzeit bezeichnete kleine Frühstück. Zur leichten Verdauung gibt es vor der Gipfeletappe üblichweise zu warmen Tee bzw. Kaffee nur Schokokekse. Soll ich jetzt alles aufessen und damit eventuell die Verdauung überanstrengen? Appetit hätte ich ausreichend!

Jetzt stellt sich meine Essenslage direkt neben dem Eingang zur Übernachtungshütte nicht unbedingt als Vorteil heraus. Ich bin gerade beim gemütlichen Essen und bin mit mir und der Welt zufrieden, als jemand zügig aus der Hütte kommt und sich direkt neben der Tür seines Mageninhalts entleert, keinen Meter von meinen Keksen entfernt.

Ich sage laut zu ihm in der Meinung er wird es nicht verstehen:

»Mahlzeit, brauchst aber nicht daran denken, dass ich mir von Deinem Gekotze den Appetit verderben lasse!«

und esse seelenruhig weiter und wundere mich selbst, dass sich bei mir der Würgereiz nicht einstellt. Anscheinend sind ab über 4700m ü.NN nicht nur z.T. die Geschmacksnerven blockiert, sondern auch die Riechnerven. Der Unglückliche schaut mich entgeistert an und startet zu seiner zweiten Brechrunde, kaum weiter von meinen Keksen entfernt.

Auf mein

»Einen guten Appetit«

entfernt er sich in eintönig fahlem Teint im Gesicht, für ihn ist der Aufstieg wohl vorbei. Beim Gang durch die Tür der Kibo-Hut wird er von Jemanden auf österreicherisch angesprochen, die ersten deutschsprachigen Worte der letzten 5 Tage, die ich zu hören bekomme.

Nach dem Essen steht der Moment des Gebets vor der schwierigen Aufgabe an. Es ist die Bitte, dass einem Gott doch rechtzeitig den Weg zur Umkehr zeigen könnte und einem wie alle anderen nicht ins Verderben laufen lasse. Meine Gedanken schwirren über das bekannte Kirchenlied und Morgengebet

»Führe mich, o Herr, und leite
meinen Gang nach deinem Wort.
Sei und bleibe du auch heute
mein Beschützer und mein Hort.
Nirgends als von dir allein
kann ich recht bewahret sein.«

Auch meine Motivation ist nicht auf das unmittelbare Gipfelerlebnis fixiert. Das Gipfelerlebnis wäre ein „digitales Ziel“, also Ja oder Nein und dazwischen gar nichts. Meine Vorfreude fixiere ich auf möglichst viele geschafften Höhenmeter, die ich beim Abstieg vom Aufstieg herunterrennen kann, also ein „analoges Ziel“, dass ein Zielerfüllungsgrad zwischen 0 und 100% haben kann. Diese Art von Herunterrennen müsste doch so ähnlich funktionieren, als damals der geniale Abstieg vom Vulkan Villarica in Chile.

Es beginnt die Zeit des Nachdenken. Habe ich alles bisher richtig gemacht oder zumindest in all den Situationen richtig reagiert?

Waren die notwendige Masernimpfung und der geplante Fluglotsenstreik unmittelbar vor der Abreise allerletzte Warnzeichen, auf die ich eigentlich hätte reagieren müssen?

Kommt der Zeitpunkt der vorzeitigen Umkehr allmählich oder in „Keulenform“ ohne jegliche Vorwarnung?

Gerade was die im vorherigen Absatz erwähnten Warnzeichen betrifft, kommt mir die Geschichte vom „Huber-Bauer“ in den Sinn, nicht zum ersten Male in den letzten Wochen:

Der Huber-Bauer ist ein frommer und gottesfürchtiger Mensch, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Eines Tages kommt es zu einem sintflutartigen Regen. Die Überschwemmungen nehmen immer mehr zu und das Wasser steigt und steigt. Es bleibt dem Huber-Bauern nichts anderes mehr übrig, als dass er auf das Dach seines Hauses steigt. Er beginnt zu beten und bittet dem Herrgott, dass er ihm aus der misslichen Lage helfen könnte. Nach einiger Zeit, das halbe Dach steht schon unter Wasser, kommt die Feuerwehr mit einem Schlauchboot vorbei und bittet den Huber-Bauern darum, dass er mit dem Boot mitfahren solle. Der Huber-Bauer lehnt ab, sie sollen zuerst die Anderen evakuieren, da ihn der Herrgott ja sowieso helfen werde, er war ja immer fromm und gottesfürchtig. Die Wassermassen steigen immer weiter, der Huber-Bauer findet nur noch auf der Spitze des Schornsteins seines Hauses einen trockenen Platz. Da kommt ein Rettungshubschrauber angeflogen und möchte den Huber-Bauern mitnehmen. Wieder lehnt er ab, die Rettung der Anderen sei wichtiger, ihn werde ja der Herrgott helfen. Wie nicht anders zu erwarten, ertrinkt der Huber-Bauer in den weiter steigenden Wassermassen und stirbt. Im Himmel angekommen, ist sein erster Weg der Weg zur Beschwerdestelle. Er beschwert sich darüber, dass er in seinem Leben doch eigentlich frömmer als fromm gewesen sei und auch immer gebetet habe und warum er denn als „Top-Premium-Kunde“ nicht gerettet worden sei. Er bekommt zur Antwort, dass er nicht den geringsten Grund für eine Beschwerde habe, denn vom Himmel aus habe man alles versucht ihn zu retten. Der Huber-Bauer meint aber, dass er davon nichts mitbekommen habe. Darauf erhält er die Antwort: »Wir haben Dir die Feuerwehr mit dem Schlauchboot geschickt, die hat Dich aber nicht interessiert. Wir haben Dir den Rettungshubschrauber geschickt, auch der hat Dich nicht interessiert. Was hätten wir noch alles machen sollen?«

Gegen Mitternacht machen sich die ersten Gruppen schon auf der Strecke, Fransis kommt aber erst mit seiner obligatorischen halbstündigen Verspätung an, sodass es bereits deutlich nach Mitternacht ist, bevor wir mit dem Aufstieg starten können. Beim Start stelle ich den Höhenmesser auf die aktuelle Höhe und die Speicherung der erreichten Maximalhöhe ein. Man will ja wissen, auf welcher Höhe man umkehren musste.

Wie ein Laternenumzug wirkt der Schein der Stirnlampen von bereits vor uns gestarteten Gruppen. Ich selbst verzichte noch auf meine Stirnlampe, ich trage sie zwar schon um den Kopf, sie ist aber noch aus. Da aktuell noch der Mond scheint, der Mond hat schon fast komplett zugenommen, noch keine Wolken zu sehen sind und der Mond sich noch fast 3 Handbreit über den Horizont befindet, sollte es doch deshalb in den nächsten 3 Stunden eine gut ausgeleuchtete Strecke ergeben. Auf jeden Fall ist diese gleichmäßiger ausgeleuchtet im Vergleich zu einer Stirn- oder Taschenlampe. In der Meinung meine Stirnlampe sei defekt, machen mich Andere auf diesen „Missstand“ aufmerksam. Nachdem ich dann die Lampe kurz an und ausschalte sind sie zufrieden.

Die ersten gut 150 Höhenmeter sind zwar steiler als die meisten Steigungen an den Vortagen, aber immer noch problemlos zu bewältigen. Weil mir die Schrittfrequenz von Fransis zu niedrig ist, um eine vernünftige Ausatmung und eine „runde“ Fortbewegung ohne Absetzbewegung zu erreichen, beschließe ich die Schrittlänge zu halbieren und die Schrittfrequenz zu verdoppeln. Diese Vorgehensweise muss für einen Außenstehenden den Eindruck erwecken, ich wäre ein Sauerkrautstampfer, denn meine Schrittlänge dürfte keine Schuhlänge mehr betragen. Es geht zwar langsam vorwärts, aber gleichmäßig und die Atmung ist synchronisiert. Ich habe auch nicht im Geringsten das Gefühl, dass die Situation aus dem Ruder laufen könnte.

Den Blick zurückschweifend ins Tal lässt erkennen, dass sich inzwischen ganze Völkerwanderungen auf den Weg nach oben machen. Wo kommen die denn alle her? Waren die alle in der großen Steinhütte an der Kibo-Hut untergebracht? Schon in der ersten halben Stunde des Aufstiegs sind bereits die ersten Geisterfahrer äh Wanderer auf der Aufstiegsstrecke unterwegs. Sie sind bereits wieder in Richtung nach unten, meist fest am Arm gepackt von einem der Guides.

Wann wird es bei mir so weit sein, dass es Arm in Arm nach unten geht?

Fast schon wartet man auf folgende Verkehrsdurchsage: „Achtung Kilimanjaroaufsteiger: auf der autobahnähnlich ausgebauten Marangu-Aufstiegsroute kommen ihnen zwischen den Anschlussstellen Kibo-Hut und Gillman’s Point mehrere Geisterwanderer entgegen. Bitte halten sie sich am rechten Fahrbahnrand und überholen sie nicht. Wir melden uns wieder, wenn die Gefahr vorbei ist.“

Anscheinend haben wir bis jetzt ein vernünftiges Aufstiegstempo gefunden, der „Vorsprung“ der Anderen verändert sich kaum, auch die Gruppen hinter uns halten noch respektvoll (?) Abstand. Ein Blick auf den Höhenmesser verrät mir, dass mein erstes Ziel erreicht ist, mein bisheriger Höhenrekord von 4912m ü.NN (im Bus sitzend) ist übertroffen. Bereits seit geraumer Zeit ist aus dem leicht gebogenen Weg eine schier unendliche Serpentine geworden, diese ist aber noch steiler als zuvor schon der Weg war. Es wird sehr interessant werden, dieses Anstrengungsprofil in den nächsten Stunden durchhalten zu müssen. Im Bedarfsfall der vorzeitigen Umkehr aber wäre man wieder relativ zügig zurück bei der Kibo-Hut.

Wie aus dem Nichts sagt Fransis zu mir:

»Du machst zu viele und zu schnelle Schritte. Du wirst zu viel Energie verbrauchen! Mache doch langsame und lange Schritte!«

Da Fransis bisher nicht das Geringste an meinen Schritt- und Atemeskapaden auszusetzen hatte, denke ich mir, er wird schon recht haben und versuche seine Vorgaben umzusetzen. Zunächst fällt mir die Umstellung gar nicht so schwer als erwartet, aber irgendwie werden alle Andern jetzt schneller und ich immer müder, irgendwie rutscht da bei mir der sprichwörtliche Keilriemen durch. Riemenpech, im Fachjargon „Treibriemenadhäsionswachs“ genannt, gegen einen schleifenden Keilriemen gibt es aber noch nicht als Outdoorausstattung. Ich sage zu Fransis, dass, wenn sich ein vernünftiger Platz ergibt, wir einen Halt einlegen sollten, irgendwie ist jetzt in der Sache der Wurm drin. Irgendwie funktioniert jetzt der Rhythmus bei mir beim Ausatmen nicht mehr.

An einem Felsvorsprung (auf dem Bild zur Aufstiegsroute einige Seiten weiter vorne bei der starken Linkskurve nach der Kibo-Hut) legen wir, wie fast alle anderen auch, eine Rast ein. Da ich mir vorgenommen habe, komme was wolle, mich erst wieder nach der Rückkehr zur Kibo-Hut hinzusetzen, gibt es die Pause im Stehen. Würde man sich in großen Höhen zu zügig vom Hinsetzen erheben, kann es zu einem massiven Abfall des Blutdrucks kommen, der dann eine Ohnmacht oder auch einen Kreislaufkollaps zur Folge haben kann. Dies ist zwar nicht der Grund meines „Stehenbleibens“, die Rast im Stehen empfinde ich einfach entspannter. Mit Fransis habe ich bereits beim vorabendlichen Briefing vereinbart, dass, wenn ich mich auf der Gipfeletappe freiwillig hinsetzen würde, er mich umgehend, ungefragt, koste es was es wolle und wenn es 3 Meter vor dem Gipfel wäre, zurück zur Kibo-Hut bringen solle. Und es soll ihm dabei überhaupt nicht interessieren, ob ich mich dagegen beschwere. In diesem Falle wäre ich wirklich nicht der Herr meiner Sinne.

Mein Höhenmesser zeigt aktuell am Pausenplatz 5050m an, das Garmin eines anderen Guide 5100m. Beim gegenseitigen Abgleich der Werte stellt sich heraus, dass er seinen Höhenmesser auf der Kibo-Hut auf 4750m eingestellt hat, ich jedoch auf 4700m wie am Schild der Kibo-Hut angeschrieben.

Obwohl sich inzwischen schon ganz vereinzelte Schneeflocken zu uns verirren, die Wolken dazu sind mir schon vorher aufgefallen, ist das Wasser aus der Sigg-Flasche noch in trinkbarem Aggregatzustand, also Eiswürfel in flüssiger Form. Als kleinen Snack zwischendurch gibt es ein Esstrink-Gel, man schmeckt das ekelig. Ist das etwa eine Lebertran-Vegemite-Essenz, hätte ich es doch vorher probiert! Oder sind jetzt meine Geschmacksnerven nun auch schon in den Streik getreten?

Augenblicke später geht es schon wieder weiter, manche kehren aber bereits hier wieder um. Ab jetzt sind auch nicht mehr zu übersehende frisch gesetzte Markierungspunkte an den Serpentinen erkennbar. Die Punkte haben die Form von Haufen, zusammengesetzt aus Magensäure und noch nicht verdauten Mageninhalten. Hoffentlich blüht mir das jetzt nicht auch, eigentlich habe ich mir das süddeutsche Motto gegeben: »A gscheider Bauer nimmt san Dreck mit ham« (Übersetzt: »Ein intelligenter Landwirt nimmt seine Verunreinigungen wieder mit zu sich nach Hause«).

Der von vielen beschriebene „Turboeffekt“ des Esstrink-Gels nach einigen Minuten bleibt bei mir aus oder ich bemerke es einfach nicht, ist jetzt auch noch meine Verdauung im Tiefschlaf? Irgendwie geht es jetzt gar nicht mehr vorwärts, ich fühle mich einfach nur noch antriebslos.

Scheitert jetzt der Versuch den eigenen inneren Schweinehund auf die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten zu setzen?

Müde könnte ich ja noch versehen, aber einfach null Bock hier mitten am Berg?

Ich glaube, ich muss mal mit meinem Verstand und meinem Unterbewusstsein ein ernsthaftes Gespräch von Mann zu Mann führen. Mein Verstand ist zwar schnell wieder eingenordet, aber wie weit ist die Beratungsresistenz meines Unterbewusstseins schon fortgeschritten?

Der Verstand sagt, ja es geht wieder weiter und dem Unterbewusstsein fällt nach ein paar Metern nichts Besseres ein, als einem den inneren Stinkefinger zu zeigen. Das kann ja heiter werden. Zum Glück weiß fast niemand aus dem Bekanntenkreis, dass ich hier am Kilimanjaro unterwegs bin, wenigstens ein Vorteil in der Situation. Soll das jetzt die nächsten 500 Höhenmeter so weiter gehen? Eigentlich warte ich nur noch darauf, dass Fransis mich anblickt und spricht:

»Das war’s, wir müssen runter!«

Aber keine Reaktion von meinem Guide. Unbeirrt trottet er vergleichbar der Superzeitlupe beim Film einfach gaaaaaaaaanz langsam und vor Kälte zitternd weiter, irgendwie habe ich Mitleid mit ihm.

Hat der sich hinter meinem Rücken, obwohl er eigentlich immer vor mir geht, mit meinen beiden inneren Streithähnen verbündet? Und der Überlebenswille meines inneren Schweinehunds interessiert ihm wohl nicht die Bohne.

Aus den vielen gelesenen Berichten zum Kraterrandaufstieg am Kilimanjaro habe ich mich ja auf Vieles eingestellt. Aber jetzt stehe ich hier auf über 5000m, von Laufen kann kaum noch die Rede sein, habe keine weichen Knie, kein Ziehen in den Unterschenkel oder sonstige muskuläre Wehwehchen, Kopfschmerzen sind Fehlanzeige, Unwohlsein ein Fremdwort, die Fingerspitzen sind auch nicht dick, der Magen hält sich aus allem raus, die hintere Gasentlüftung funktioniert tadellos, ich sehe alles einfach, kann mich an alles erinnern, weiß auch, dass Ich gleich Ich bin und rede nicht mehr Blödsinn als sonst auch, nur der Verstand und das Unterbewusstsein können sich nicht einigen. Einfach rauswerfen hier im tiefsten Afrika kann ich die beiden auch nicht, sie haben mir bisher immer treue und uneigennützige Dienste erwiesen. Und eine Verlustmeldung meines Verstandes will ich hier auch nicht aufgeben. Der Aufstieg ist schon schwierig genug, da kann man sich nicht leisten, dass man sich auch noch auf die Suche nach dem dann verlorenen Verstand begibt.

Bin ich schon mittendrin in der Höhenkrankheit und will es einfach (noch) nicht wahrhaben?

Drehe ich mich bereits im „Höhenhamsterrad“ einer Höhenkrankheit und sehe den „Wald vor lauter Bäumen nicht“?

Sind meine Wahrnehmungen in Wahrheit nur noch Einbildungen einer bereits aus den Rudern laufenden Situation?

In der Vorbereitungszeit zum Aufstieg habe ich oft versucht, mich mental für die unterschiedlichsten psychischen und physischen (Ausnahme-)Situationen beim Aufstieg eine Lösung zu finden, also irgendeine Form von einem Plan B oder zumindest eine Lösungsansatzrichtung im Fall des Falles in der Hinterhand zu haben. Aber diese mentale Null-Bock-Situation hätte ich nie und nimmer erwartet. Es kommt einfach anders als man denkt. Befürchtet habe ich gerade bei der Gipfeletappe vor allem kurzfristige und extreme körperliche Ausfallerscheinungen. Aber körperlich fühle ich mich eigentlich noch nicht am zuvor erwarteten Grenzbereich angekommen.

Nachdem ich mich mit meinem Verstand darauf geeinigt habe (mit dem kann ich wenigstens noch vernünftig reden), dass ich geistig noch nicht weggedrehten bin, mache ich mich an die Analyse der Gesamtsituation. Für die Sauerstoffsättigungsprüfungen hatte ich mir eine Grafik in Folie laminiert und auf der Rückseite Checklisten für die verschiedenen Ausprägungen von Höhenkrankheiten. Dieses Blatt befindet sich in der linken Jackenaußentasche. Trotz zwei Paar Handschuhen kann ich das Blatt im ersten Versuch problemlos aus der Jackentasche nehmen, die Feinmotorik funktioniert also noch. Ein Höhenhirnödem kann ich gemäß der Checkliste schon mal grundsätzlich ausschließen. Zu einem Höhenlungenödem passt bestenfalls der Leistungseinbruch, alle anderen Ausprägungen sind aber nicht einmal ansatzweise vorhanden. Auch bei einem akutem Leistungseinbruch müsste ich mich doch eigentlich richtig schlapp fühlen, doch dies ist in der jetzigen Situation nicht der Fall.

Das dauert ja bis Weihnachten, bis wir am Kraterrand sind! Das ist mir jetzt auch egal, wenn Fransis weiter nach oben läuft, laufe ich ihm einfach hinterher, auch wenn‘s ein paar Stunden länger dauert.

Ich muss mich irgendwie ablenken, so kann das nicht weitergehen!

Ich frage Fransis, »Habt Ihr hier am Kilimanjaro neue physikalische Gesetze geschaffen?«

»Warum fragst Du?«, antwortet er.

»Weil man am Kilimanjaro um 100 Höhenmeter nach unten zu kommen, um 100 Höhenmeter nach oben gehen muss?«

Verdutzt fragt er »Wie kommst Du zu dieser komischen Ansicht?«

»Wir waren doch vorher schon auf 5100m. Wir gehen immer weiter nach oben und jetzt liegt da ein Schild auf der rechten Seite wo draufsteht, dass wir erst auf 5000m sind!«, antwortete ich.

Zur Auflösung dieser komischen Frage: Am Kilimanjaro auf der Aufstiegsroute zum Gillman‘s Point liegt neben der Strecke auf etwa 5200 ein zerfallenes Schild, dass man sich jetzt bereits auf 5000m befindet. Vermutlich hat vor Zeiten irgendjemand den Schild im Übermut von seinem ursprünglichen Platz hierher verfrachtet. In Berichten zum Aufstieg hat er deswegen auch schon eine gewisse Berühmtheit erlangt. Für mich ist es eine weiterer Meilenstein für den Aufstieg.

Jetzt werde ich auch von Vielen überholt, mein Zustand ist aber gleichbleibend, nicht einmal richtig außer Atem bin ich. In den immer zahlreicher werdenden schöpferischen Pausen unterhalte mich auch des Öfteren mit Fransis, v. a. auch darüber, dass ich mich über mich selbst ärgere und noch keine praktikable Lösung des Problems gefunden habe. Die besten Vorsätze sind nach kaum einer Spitzkehre wieder Schall und Rauch. Aber zu einer konstruktiven Unterhaltung in englischer Sprache mit Fransis ist noch genügend Luft und Hirnschmalz da. Und frieren muss ich in all meinen Kleidungsschichten auch noch nicht.

Im letzten Jahr hatte ich mir auch eingebildet, eine 2 Kilometer lange und 4400m hoch gelegene Ebene beim Aufstieg zwischen 3800 m und 4600m in 20 Minuten zurücklegen zu müssen. Beim nächsten Anstieg war dann natürlich die Luft raus und der Ärger über mich groß. Nachdem ich damals aber die nächsten 200m in kleinen Gänseschritten lief, war die Luft wieder da. Aber zu solch einer Vorgehensweise kann ich mein Unterbewusstsein heute nicht bewegen.

Auf 5250m steht die Hans-Meyer-Höhle an, hier ist eine größere Rastpause bei fast Allen angesagt. Ich genehmige mir wieder ein Esstrink-Gel und trinke Wasser. Auf einem (hoffentlich) noch warmen Tee aus der Thermoskanne verzichte ich an dieser Stelle noch. Früher war man der Meinung, dass Hans Meyer diese Höhle als Rastplatz bei der Besteigung des Kilimanjaro benützt hat.

Kurz vor dem Weitergehen frage ich Fransis:

»Bist Du öfter mit solchen Schildkröten wie mich am Berg unterwegs?«

Schweigend mit mir ins Gespräch vertieft geht er einfach wortlos weiter und ich laufe ihm einfach nach. Was soll ich hier um diese Uhrzeit sonst schon machen?

Ich nehme mir vor erst dann umzukehren, wenn auch mein Guide umkehrt und wenn wir den ganzen Tag unterwegs sind. Die Serpentinen werden sich noch bis auf 5500m Höhe hinaufschlängeln und ab dann geht es über Stock und Stein bis auf 5681m zum Gillman’s Point an den Kraterrand. Wenn sich also der kreuz und quer umherlaufende „Laternenumzug“ vor mir wieder in gerader Linie einreiht, dann sind 5500m geschafft. Ab dieser Höhe wird nur noch im äußersten Notfall umgekehrt. Verstand und Unterbewusstsein sind sich zwar immer noch nicht grün, ich versuche mir aber mit einem Ratespiel über die frisch gesetzten Markierungshaufen mageninhaltlicher Art, von manch Vorausgehenden an der Strecke zielgerichtet gesetzt, die Zeit zu vertreiben. Sind sie von der gleichen Küche, grob oder fein gekaut, eher rund am Boden oder über einen Stein abgesetzt worden. Von der Anzahl her könnte man ein ganzes Buch darüber schreiben. Manch eine(r) begutachtet im Hinsetzen und Liegen das zuvor vollbrachte Werk. Es werden auch noch gezielte Verbesserungen vorgenommen. Nicht nur ein angebrochener Haufen schaut nicht unbedingt schön aus. In der aktuellen Situation erscheint der sonst platte Spruch „Man hat schon Pferde kotzen sehen“ in einem ganz anderen Licht.

Man ist in der harten und realen Welt des Höhenbergsteigens angekommen, hoffentlich gibt es keinen Todesfall zu beklagen, es sollen nicht wenige im Jahr am Kilimanjaro sein. Die inoffiziellen Zahlen dazu schwanken zwischen 10 und 100 Toten im Jahr, die Wahrheit wird wahrscheinlich irgendwo in der Mitte liegen. Andere Quellen sprechen von einem Toten auf 1000 Gipfelstürmer. Ob damit nur die Gipfelstürmer selbst gemeint sind oder auch die Träger mit einberechnet sind, ist aus diesen Quellen nicht zu erfahren. Trotzdem sind dies Zahlen, die einem zum ernsthaften Nachdenken bringen.

Musste ich denn unbedingt auf diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten?

Bin ich jetzt in letzter Zeit schneller geworden oder schlafen die jetzt vor mir?

Der Abstand zu den weiter oben Vorauslaufenden verringert sich zusehends. Innerer Schweinehund stell dich auf Ärger ein, Du wirst hier keinen Tierschützer finden, der Dir beistehen wird! Aus dem „antriebslos“ in der Motivation löst sich das „los“, ein zweiter Frühling mitten im August beginnt. Ich bin zwar während der Fortbewegungsphasen auch nicht unbedingt schneller als zuvor, es geht aber kontinuierlich weiter und die Serpentinen sind vorbei, 5500m sind somit erreicht. Ich bin zwar bei über 95% Belastung angekommen, aber irgendwie geht es immer weiter nach oben, eine Motivation dazu ist eigentlich gar nicht nötig. Die Frustpausen sind jetzt wie vom Erdboden verschwunden. Beim Warten, dass es vorne weitergeht, ist auch wieder ein Grinsen im Gesicht und die innere Genugtuung dies hier alles ohne irgendwelche gesundheitliche Probleme erleben zu dürfen.

Was mich an mir am meisten wundert: In Berichten zum Kilimanjaroaufstieg wird oft bei der Gipfeletappe über den Frust der Gipfelaspiranten gesprochen, dass es beim Blick nach oben in Richtung Kraterrand einfach kein Ende zu sehen ist und man das Gefühl hat, dass man einfach nicht vorankommt. Dieses Gefühl habe ich bis jetzt beim Aufstieg überhaupt noch nicht. Ab 5000m Höhe sieht man bei einer sternenklarer Nacht schon den Kraterrand, auch wenn er noch sehr weit entfernt ist. Wenn man sich markante Punkte (z.B. eine lange Serpentine) bei Vorausgehenden merkt, bekommt man auch ein Gefühl über den eigenen Fortschritt. Ebenfalls nehme ich mir die markanten Richtungswechsel in der S-Kurve des Aufstiegs und das Ende der Serpentinen als wichtige Anhaltspunkte. Durch die Querung des Kibo-Sattels bei sehr guten Sichtbedingungen hatte ich ja gestern ausgiebig die Möglichkeit, dass ich mir markante Punkte der Aufstiegsroute einprägen konnte.

Nur mit einem schönen Sonnenaufgang hier oben auf mehr als 5500m wird es heute nichts werden. Es wird von Minute zu Minute immer diesiger, beim Blick zurück in Richtung des Mawenzi ist der Hans Meyer Peak schon zur Gänze in Wolken gehüllt, und es wird das Tageslicht betreffend stetig heller. Macht aber nichts, man kann nicht alles haben.

»Hast Du Probleme weil Du immer wieder stehen bleibst?«, fragt Fransis,

»Hakuna matata Fransis!«, antworte ich ihm.

„Hakuna matata“ ist Kisuaheli und bedeutet „keine Sorge“. Ich sage ihm, dass ich jede Felsformation, sofern man die Geröllhalden hier oben bei gut 5500m so nennen darf, am Stück durchsteigen und nicht jeden Meter auf den Vordermann/Frau auflaufen will. Lieber bleibe ich eine Zeit lang dafür stehen. Solch eine Vorgehensweise ist für mich wesentlich weniger anstrengend als ein Stop-and-Go-Betrieb. Und man braucht ja schließlich genügend Zeit, um die gerade zu erlebenden aktuellen Augenblicke auch zur Genüge genießen zu können.

Die Jubelschreie werden immer lauter, es kann nicht mehr weit sein. Um 6:37 Uhr ist es soweit, der Kraterrand am Gillman’s Point ist erreicht, 5.681m ü.NN. Wie aus dem Nichts sind Verstand und Unterbewusstsein wieder ein Herz und eine Seele. Ein wichtiger Meilenstein ist erreicht, dass eigentliche Ziel aber sicherlich noch 2 Stunden entfernt. Vor Freude liegen manche am Boden oder beginnen zu weinen, ich genieße für mich den Augenblick, es wird ja wahrscheinlich noch weiter gehen. Jetzt darf natürlich das obligatorische Foto am Schild des Gillman’s Point nicht fehlen. Da sich gut 20 Personen auf wenigen Quadratmetern befinden, ist eine Enge vorprogrammiert. Vor dem Schild geht es steil hinab zur Kibo-Hut, hinter dem Schild abrupt in den Kraterboden hinab.

Mit dem Gillman’s Point gilt der Kilimanjaro offiziell als bestiegen, denn dieser Punkt stellt den Kraterrand des Vulkans dar, der 5.895m hohe Uhuru Peak ist dann die höchste Erhebung im Krater bzw. genau genommen am äußeren Kraterrand. Da jetzt ein leichter Eisschneeregen und Nebel mit weniger als 50m Sicht herrscht, kann sich ein farbenfroher Sonnenaufgang dahinter verstecken. Dieser hätte zwar um diese Zeit seinen Termin, er ist aber weit und breit nicht zu sehen. Es gibt auch keinen Blick in den tiefer liegenden Kraterboden zu erhaschen. Da ich bereits vor Jahren auf dem 3055m hohen Vulkan Haleakala auf Maui (Hawaii) einem atemberaubenden Sonnenaufgang erlebt habe, bin ich über die fehlenden Farben beim Sonnenaufgang nicht enttäuscht, es hat halt nicht sollen sein.

Sicherheitshalber lasse ich auch ein Foto von mir und Fransis am Gillman‘s Point mit der Spiegelreflexkamera machen, man weiß nie, wo man später umkehren muss. Da auf vielen Fotos vom Gillman‘s Point oft Nebel herrscht und der Platz vor dem Schild sehr eng ist, wirken diese Fotos oft, als wären sie in einem Fotostudio aufgenommen worden. Aber irgendwie passt die Stellung des Objektivs nicht zur Lage der Kamera. Zum Fotografieren habe ich die Kamera jemanden gegeben und die Einheit schaut etwas komisch aus. Beim näheren Betrachten der Kamera fällt mir auf, dass das Objektiv nicht sauber im Bajonett eingerastet ist. Aber wie hat sie dann ein Foto machen können? Sicherheitshalber machen wir die Fotos nochmal. Wie sich später herausstellen wird, eine sehr gute Idee, denn die beiden ersten Fotos waren sehr unscharf.

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Am Gillman’s Point auf 5.681m ü.NN angekommen

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Das ursprüngliche Foto mit schiefstehendem Objektiv  -  mir schleierhaft, dass die Kamera da überhaupt funktioniert hat

Während des Aufstiegs habe ich von Fransis auch einige Fotos mit der kleinen Kamera machen lassen. Diese Bilder sind nicht nur unscharf, sondern auch noch dunkel und absolut verschwommen, auch Testfotos von mir geknipst werden nicht besser.

Nach einem heißen Tee für mich und Fransis (die Thermoskanne war verdammt dicht) geht es jetzt weiter. Wider Erwarten ist auch das Wasser in der Sigg-Flasche noch nicht zu einem Eiswürfel mutiert und dies, obwohl die Flasche sich außen am Rucksack befindet. Als Kälteschutz der Flasche darf dabei nur der Köcher meines Tele-Objektiv herhalten.

Jetzt stellt sich die Frage: Will mein Guide nun weiter in Richtung Gipfel oder wieder zurück? Wir sind ja inzwischen 2 Stunden hinter seiner utopischen Zeitplanung.

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Weg vom Gillman’s Point in Richtung Stella Point

Viele kehren bereits hier am Gillman’s Point wieder um, aber Fransis geht am Kraterrand in Richtung Stella Point wortlos weiter und ich folge ihm einfach. Und siehe da, meine Atemtechnik der nicht letzten 4 Stunden funktioniert wieder tadellos, hätte ich nicht auf ihn hören sollen? Es geht zwar bei geschätzten Temperaturen deutlich unter -10°C, der Klettverschluss der Daunenjacke ist weiß und nicht mehr schwarz, gefühlsmäßig langsam weiter, aber mit einem kaum zu beschreibenden inneren Freudengefühl, tut mir leid für dich mein innerer Schweinehund. Verschnaufpausen wie oft beschrieben, muss ich auch keine einlegen, Luft habe ich anscheinend genug, denn es geht stetig weiter.

Ich gehe aber bewusst langsam, also fast schon „pole pole im Quadrat“, bei konzentrierten Bewegungen, denn einen „Ausrutscher“ kann ich mir hier nur bedingt erlauben. Eine Rettung von mehr als 2 Zentnern Lebendgewicht wäre hier oben sehr kompliziert und rechts geht es 100m in den Krater hinab. Von der „Luft“ her könnte ich zwar jetzt wieder schneller gehen, also fast schon wieder Bäume ausreißen die der Bonsaigröße entwachsen sind, aber lieber genieße ich jetzt die Augenblicke bis zum Gipfel. Die Erinnerungen, die ich jetzt sammeln darf, kann mir später niemand mehr nehmen.

Sind wir denn noch auf den richtigen Weg?

Keiner folgt uns, keiner ist vor uns und es kommt uns auch niemand entgegen?

Sind wir also die Letzten?

Wenn dem wirklich so ist, was soll’s, jetzt bin ich schon mal da und es geht einfach wie in einer Berg- und Talbahn auf hart gefrorenem Boden weiter. Die Sichtverhältnisse sind jedoch immer noch bescheiden, sodass auf den gut 1,5km vom Gillman’s Point bis zum 5.750m hoch gelegenen Stella Point kaum 100m Sicht ist.

Fast wieder auf ebenem Weg nähern wir uns dem Stella Point, wo die südlichen Aufstiegsrouten vom Barafu Camp aus mit dem Kraterrand zusammen trifft. Auf dieser Aufstiegsroute sind auch noch einige Bergwanderer am Abmühen. Im Unterschied zur Gillman’s Point Strecke, wirkt der Lavaschotter hier wesentlich fester und es geht hier nicht in Serpentinen hoch.

Jetzt sind es also vom Stella Point aus nur noch kaum mehr als 140 Höhenmeter bis zum Gipfel, aber nochmals fast 2 Kilometer. Eigentlich müsste man linker Hand jetzt schon das Eisfeld des Rebmann-Gletschers erkennen können, aber anscheinend ist heute der Weißton des Gletschers analog dem Weißton der Wolken gehalten. Mit viel positivem Denken kann man in den Wolken eine Gletscherkontur hineininterpretieren. Und die Sicht mit 100m in den Krater hinein, v. a. zum Reusch-Krater hin, ist auch nicht besser.

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Weg vom Stella Point in Richtung Uhuru Peak - Nebel und Gletscherwelt

Vom Stella Point an sind aber doch wieder Einige auf den Weg zum oder vom Uhuru Peak. Die Spitze des Kilimanjaro selbst soll gar nicht weiter auffallen, weil auch die anderen Erhebungen am Kraterrand fast auf die identische Höhe aufragen. Verfehlen kann man den Uhuru Peak aber nicht, da der Weg dorthin gut ausgetreten ist und heute nur noch neben dem Pfad Schnee liegt. Der Blick zu den vom Gipfel zurückkehrenden Wanderern gibt bei denen eine Mischung aus Fix-und-Foxi und Lottogewinn preis. Was mich aber wundert, ist die Gesichtsfarbe von so manch einem/einer, irgendwie ist da manchmal ein richtiger Gelbstich dabei. Auch wenn jetzt die Sonne schon zaghaft durch das Nebel-Wolkengemisch scheint, es ist nur bei manchen so, also ist meine Hirn-Augen-Achse nicht unbedingt falsch kalibriert. Durch die zaghaften Sonnenstrahlen erkennt man nun auch etwas vom imposanten Rebmann Gletscher.

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Uhuru Peak 5895m ü.NN, auf dem Dach Afrikas angekommen

Es ist jetzt 8:23 Uhr und der Weg ist hier zu Ende, vor uns ist nur noch das hölzerne Gipfelschild des Uhuru Peaks als höchster frei stehender Berg und Vulkan auf der Welt mit 5895 tansanischen und 5892 restweltlichen Höhenmetern . Jetzt heißt es etwas Geduld bewahren, denn der Platz vor dem „Gipfelkreuz“ ist für die obligatorischen Gipfelfotos bereits von Anderen besetzt. Wieder aller meinen Erwartungen habe ich das Dach Afrikas erreicht und ich fühle mich auch nicht mehr schlapp. Jetzt gilt zunächst mein Dank an Gott, dass er mir diese Chance gewährt hat und ich dieses Ziel jetzt auch genießen darf. Es ergibt sich daraus für mich eine riesige innere Genugtuung, eine innere Freude den ersten Teil der Unternehmung erfolgreich abgeschlossen zu haben.

Jetzt heißt es die Konzentration darauf zu lenken, die tiefen Löcher, in die man von nun an mental fallen könnte, erfolgreich umschiffen zu können. Sind diese Löcher auch gut ausgeschildert oder wenigstens vernünftig abgedeckt, oder fällt man unversehens in sie hinein? Ist es ein tiefes Loch oder doch mehrere? Wie zuvor schon am Gillman’s Point halten sich auch am Uhuru Peak meine Emotionen sehr in Grenzen, man könnte fast meinen, dass der Genießer schweigt.

Nach einigen Minuten, es hat immer noch Nebel, bin ich mit dem Gipfelfoto an der Reihe. Ein anderer Kilibezwinger bietet sich als Fotograf an, was ich natürlich nicht ablehne, auch wenn er doch so seine Probleme mit der Bedienung der Spiegelreflexkamera hat. Er findet bei seinem besten Willen einfach nicht das nicht vorhandene „Online“-Display der Kamera, welches ja digitale Spiegelreflexkameras nicht unbedingt haben. Wenn ich aber in die Gesichter der meisten hier Anwesenden sehe, man sind die geschafft, schau ich auf den Bildern später dann genauso gerädert aus? Es besteht nicht die Chance, alleine und oder nur mit Fransis auf das „Gipfelfoto“ zu kommen. Eine Gruppe feiert unmittelbar am Gipfelschild und will den Platz auch nach mehreren Minuten nicht räumen. Den Unbill der vor dem Gipfelschild Wartenden interessiert sie nicht im Geringsten. Ein Verhalten, welches eigentlich in den letzten Tagen am Berg unüblich war. Es ist zwar fast schon ein Gedränge am Gipfelschild, aber alle anderen versuchen ihre Zeit vor dem Gipfelschild möglichst kurz zu halten.

Da die Fernsicht am Gipfel mit 50m Sichtweite gleich null ist und kein Wind vorherrscht, der den Nebel und/oder die Wolken vertreiben könnte, ist es zwecklos länger am Uhuru Peak zu verbleiben. Obwohl mein Guide noch nicht zum Aufbruch gedrängt hat, mache ich mich mit Fransis wieder auf den Rückweg zur Kibo-Hut in Richtung des Gillman‘s Points.

Kaum sind wir 200m Wegstrecke talwärts gelaufen, wird die Sicht immer besser, das südliche Eisfeld mit Kersten- und Decken-Gletscher erstrahlt jetzt bei Sonnenschein in voller Pracht. Auch ist jetzt ein Blick in den äußeren Kraterbereich möglich, im Kraterboden erkennt man auch den hochhaushohen Furtwänglergletscher. Es ergibt sich aber von dieser Kraterrandseite kein Blick in die Ash Pit des Reusch-Krater. Der Reusch-Krater selbst hat 5840m, der Kraterboden etwa 5750m und wir sind hier wieder auf etwa 5850m abgestiegen. Jetzt macht es auch einen riesigen Spaß die Eindrücke mit der Kamera festzuhalten, hab ich die 2kg für Kamera und Objektiv doch nicht umsonst die letzte Woche mitgeschleppt. Auch wenn man beim Begriff „Ash Pit“ das Wort „Ash“ mit Asche gleichsetzen kann, „Ash“ ist angeblich der Nachname eines britischen Wissenschaftlers am Kilimanjaro.

Wirklich unbeschwert geht es auf den weiteren Rückweg, irgendwie laufen die Füße jetzt von selbst. Es scheint so, als ob Verstand und Unterbewusstsein ihre Diskrepanzen vom Aufstieg wieder gut machen wollen. Erst beim späteren Betrachten der Digitalbilder fällt mir auf, dass zu diesem Zeitpunkt noch viele Personen im Bereich zwischen Stella Point und Uhuru Peak unterwegs sind. Und ich habe vorher noch gedacht, dass wir hier zu den Letzten am Berg oben gehören.

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Gletscherwelten auf über 5800 Meter

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Gletscherwelten auf über 5800 Meter

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Gletscherwelten auf über 5800 Meter  -  Furtwängler-Gletscher im Hintergrund

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Blick in Richtung Stella Point (am Ende des Bergaufweges) und Gillman’s Point

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Gletscherwelten

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Blick in den Krater zum nördlichen Eisfeld

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Gletschersee am Rebmann Gletscher

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Furtwängler Gletscher im Kraterboden  -  kurz vor dem Stella Point aus fotografiert

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Stella Point, 5750 m ü.NN  -  im Hintergrund der Furtwängler Gletscher im Kraterboden

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Blick vom Gillmans Point zum Uhuru Peak

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Panoramaaufnahme vom Gillman’s Point, Links Uhuru Peak, Mitte der Reusch Krater, Rechts des nördliche Eisfeld

Trotz vieler Fotostopps, der Uhuru Peak bleibt die ganze Zeit in Wolken, ein längeres Warten dort oben hätte sich nicht gelohnt, dauert es kaum eine Stunde, bis wir wieder am Gillman’s Point zurück sind. Der Abstieg vom Kraterrand zur Kibo-Hut verläuft üblicherweise auf identischer Route aber nicht auf identischer Strecke als der Aufstieg. Weil aber jetzt in den späteren Morgenstunden der Schotter nicht mehr gefroren ist, wäre es nicht ratsam, dem Verlauf der Aufstiegsserpentinen zu folgen. Stattdessen soll es, wie so oft in Lavafeldern, in der Direttissima nach unten gehen. Davon sind aber die vor uns Gehenden nicht so ganz überzeugt, sie bewegen sich 1:1 auf der Strecke des Aufstiegs und dies auch noch sehr langsam. Von wo kommen diese her? Auch auf dem Rückweg war zwischen Stella und Gillman’s Point nichts los. Kehren diese Absteiger auch schon am Gillman’s Point wieder um?

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Abstieg vom Gillman’s Point zur Kibo-Hut

Was solls, jetzt wird erst mal den Berg hinabgelaufen. Man muss aber im Lavafeld seinen Bewegungsablauf umstellen, da es ratsam ist, jeden Schritt durch das betonte Setzen der Fersen bzw. Hacken abzubremsen. Andernfalls würde es fürchterlich lange Bremswege geben und ein kontrolliertes Abbremsen der eigenen Körpermasse am steilen Berghang wäre äußerst schwierig.. Zunächst geht es aber noch über einige felsenartige Lavabrocken, bevor man sich die ersten Abkürzungen zum Abstieg sucht.

Aber irgendwie läuft der Abstieg jetzt bei mir nicht ganz rund. Am linken Fuß scheint alles in Ordnung zu sein, der rechte Fuß steht irgendwie etwas auf der Leitung. Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass er etwas zu lange mit dem Umsetzen der Steuerbefehle braucht. Zumindest braucht er deutlich länger als sein linker Pendant. Links ist der Bremsweg im Schotter bei kaum 30cm, rechts dauert es fast immer einen Meter. Im rechten Kniebereich baut sich die Spannung zum Abbremsen vom Gefühl her nur noch mit einer Verzögerung auf. Ich habe den Eindruck, dass ich rechts sowohl nach unten wegrutsche und gleichzeitig auch noch nach außen hin wegknicke. Also setze ich meine Aufmerksamkeit auf den rechten Fuß, was mein linker Schuh postwendend mit einem Hängenbleiben im Reißverschluss des rechten Beins meiner Regenhose quittiert.

Was dann bei 80% Gefälle passiert, kann sich jeder ausdenken. Über die künstlerischen und technischen Bewertungen meiner nun folgenden Flugeinlage habe ich noch keine Rückmeldungen erhalten. Ich versuche nicht kopfüber abzurollen, sondern über die Schultern, darauf achtend nicht auf einen Felsbrocken aufzuschlagen. Auch versuche ich jegliche Körperspannung herauszunehmen, bei einer ungewollten Vollbremsung wären die Auswirkungen sonst noch schwerwiegender. An mehr als eine 360° Rolle kann ich mich erinnern , bis ich endlich mit den Füßen nach unten und das Gesicht zum Berg zeigend anhalten kann. Fransis steht mindestens 30m über mir, mit Fassungslosigkeit im Gesicht. Und ich habe nach meiner Rolleinlage nicht einmal eine Schürfwunde.

Glücklicherweise habe ich am Gillman’s Point schon meine Gore-Tex-Jacke in den Rucksack verpackt, sonst hätte sie jetzt wie meine Regenhose und die Daunenjacke nur noch Schrottwert.

Mein erster Satz zu Fransis:

»So schnell schafft hier am Kilimanjaro kaum einer 30m Höhenunterschied! Aber so schnell habe ich es eigentlich gar nicht vorgehabt!«

Ich erkläre meinem Guide, wie es wahrscheinlich zu diesem Missgeschick gekommen ist und wir beschließen, dass er sich an meinem linken Arm einhängt, weil mir mein rechter Fuß und hier das Knie nicht ganz geheuer sind. Fransis hatte sich zwar am rechten Arm einhängen wollen, so wie es in diesem Falle die meisten machen würden, aber ich kläre ihn auf, dass dies die falsche Seite ist. Es soll ja das überlastete Bein entlastet werden. Eine partielle Übermüdung am rechten Bein kann es ja nicht sein, der Rest funktioniert reibungslos. Es könnte aber daran liegen, dass ich eigentlich Linksfüßler bin und damit sich am rechten Knie eine Überlastung aus den Belastungen vom Aufstieg ankündigt.

Im zügigen Tempo geht es nach unten, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam, und die links- und rechtsseitigen Bremswege gleichen sich bei mir auch immer mehr an. Unterhalb von 5000m „klinkt“ sich Fransis wieder aus. Bis zu dieser Höhe kommen uns auch vereinzelte Wanderer entgegen. Sind es Aspiranten, die in der Nacht den Aufstieg nicht wagen konnten oder? Einen zusätzlichen Erholungstag im Umkreis der Kibo-Hut wird wohl kaum einer einlegen?

Es ist kaum 10:30 Uhr und wir sind wieder an der Kibo-Hut zurück, keine 2 Stunden sind seit dem Uhuru Peak vergangen. Zur Feier des Tages genehmige ich mir und Fransis eine Dose Coca-Cola für 4000 TS (etwa 1,70€) beim Ranger. Aber auf 4750m schmeckt Cola grauenhafter als Lebertran. Anhand der Dosenaufschrift und der Konsistenz der dunkelbraunen Flüssigkeit dürfte es sich dennoch um eine original Coca-Cola handeln.

Fransis erhält meinen Pulsoxymeter, diesen dürfte ich ja jetzt nicht mehr benötigen und in Tansania ist dieser unverschämt teuer. Am Gipfel habe ich nicht sofort bei der Ankunft daran gedacht eine Messung des Sauerstoffgehalts im Blut zu machen und nach einigen Minuten Erholung war der Wille zu einer Messung vorbei. Auch für meine heute endgültig ramponierte Daunenjacke hat er schon einen Abnehmer, die Regenhose ist aber keinem mehr zuzumuten, sie hat inzwischen zu viele und zu große Belüftungslöcher, meist auch noch an den falschen Stellen.

Vor meinem Zelt nehme ich am Deckel des Auffangbehälters für einen eventuellen Regen Platz und mache mir beim Trinken aus der Cola-Dose so meine Gedanken, wie es den vielen anderen ergangen ist.

Sind alle wieder gesund von der Gipfeletappe zurückgekommen?

Haben manche bleibende gesundheitliche Schäden in der heutigen Nacht erhalten?

Erst jetzt wird mir richtig bewusst, wie eng der eigene Blick beim Aufstieg gewesen sein muss.

Die Aussicht von meinem Sitzplatz in Richtung des Mawenzi ist heute wesentlich schlechter als am gestrigen Tag, war meine Terminwahl für den Aufstieg anscheinend gar nicht so schlecht gewählt. Jetzt wird mir auch ein Grund klar, warum ich heute nacht so langsam beim Aufstieg gewesen bin. Wäre ich früher oben gewesen, dann wäre der ganze Krater und der Gipfel noch vollkommen wolkenverhangen gewesen. Ich durfte beide aber nach dem Verlassen des Uhuru Peaks im strahlenden Sonnenschein erleben. Fast könnte man meinen, hier hätte jemand absichtlich nachgeholfen.

Rein aus Interesse genehmige ich mir auch einen Blick in den eigenen kleinen Taschenspiegel, um erkennen zu können, ob im Augenweiß Einblutungen oder feine rote Äderchen zu sehen sind. Solche Blutungen treten sehr oft in Höhen über 4000m auf und gerade am Kilimanjaro sieht man deshalb sehr viele „Rotaugen“. Das Ebenbild im Spiegel kommt mir zwar heute relativ unbekannt vor, an Rotanteilen im Weiß des Auges ist aber nicht das Geringste zu erkennen.

Da es erst um 12:30 Uhr ein Mittagessen bzw. ein verspätetes Brunch geben wird, kann ich die Zeit bis dorthin zum Faulenzen nutzen. Außerhalb der Zelte und der Steinhütte ist keine hellhäutige Menschenseele zu erkennen, haben die sich inzwischen alle in ihre Behausungen zurückgezogen und holen den ausgefallenen Schlaf der letzten Nacht nach? Richtig müde und „ausgepowert“ fühle ich mich eigentlich nicht, aber in meinem michelinmännchenhaften Kleidungsschichten wird es mir doch langsam etwas zu warm. Da von meiner Begleitmannschaft auch niemand zu sehen ist, verziehe ich mich in mein Zelt. Aus Angst, ich könnte das Mittagessen verpassen, werde ich ja sowieso nicht schlafen können. 

Wenn der Guide sagt,

»Mittagessen ist um 12:30 Uhr«,

dann ist mit einer Nahrungsversorgung nicht vor 13 Uhr zu rechnen, also beseitige ich zuvor noch etwas die messi-artigen Zustände in meinem Zelt.

Während meiner Aufräumaktion im Zelt wird es draußen auf einem Schlag richtig laut, ein heilloses Stimmengewirr in Kisuaheli ist zu vernehmen. Wird da ein Bergsteiger für den Abtransport ins Tal auf einem Kilimanjaro-Akia gespannt? So wird es mir Fransis später mitteilen. Ein Kilimanjaro-Akia ist ein metallisches Lattengeflecht mit einem untergebauten ungefederten Rad eines Motorrads. Auf diesem wird der Delinquent festgeschnallt und anschließend rollenderweise, von mehreren Trägern begleitet, talwärts gebracht. Wer sich freiwillig auf dieses Unterfangen einlässt, der muss schon zuvor einen Schlag gehabt haben, nach dieser Prozedur hat man ihn sowieso.

Wie vermutet gibt es Brunch um 13 Uhr. Inzwischen hat starker Graupelschauer eingesetzt, rund ums Zelt ist es richtig weiß geworden. Eigentlich hätte ich außerhalb vom Zelt mein Essen zu mir nehmen wollen, daraus wird aber jetzt nichts. Das Essen schmeckt richtig gut und ist wie immer überreichlich.

Gegen 13:30 Uhr machen wir uns auf den Weg auf die letzte 11km lange Etappe des heutigen Tages zu den nochmals 1000 Höhenmeter tiefer gelegenen Horombo Huts. Die Strecke führt zunächst wieder wie gestern über den Kibo-Sattel, diesmal aber in südöstlicher Richtung. Das Gefälle ist auf den ersten Kilometern gleichmäßig bei etwa 10%. Begleitet werden wir vom wieder einsetzenden Graupelschneefall, der bis zum Verlassen des Sattels nicht mehr von uns weichen wird. Mein Regenschirm leistet wieder gute Dienste. Von der Anstrengung her ist diese Etappe zunächst eher ein gemütliches Auslaufen. Da der Weg autobahnähnlich ausgebaut ist, kann man trotz Gegenverkehr nebeneinander laufen und mit Anderen plaudern, z.B. wie es den Anderen in der letzten Nacht so ergangen ist.

Gestern waren bei meiner Ankunft um 13 Uhr an der Kibo-Hut kaum jemand von der Marangu-Route an der Hütte angekommen, ich habe viele erst deutlich später eintreffen sehen. Und heute hat man noch vor 14 Uhr kaum noch Gegenverkehr auf der Route. Sind heute weniger Personen von den Horombo-Huts aus unterwegs oder sind diese heute einfach nur schneller unterwegs?

Nach geschätzten 5 Kilometer Strecke auf dem Weg zu den Horombo-Huts verlässt man Zug um Zug den wüstenartigen Sattel zwischen Kibo und Mawenzi und langsam beginnt wieder die Vegetation am Boden. Der Weg ist zwar immer noch sehr gut ausgebaut, er wird aber von nun an deutlich unebener. Ein Zustand, dem mein rechtes Knie so gar nicht behagen will. Treten jetzt Folgeerscheinungen vom morgendlichen Absturz auf oder sind es Zeichen einer fortschreitenden Überlastung?

Normale Knieprobleme können es eigentlich nicht sein, denn beim Trekking habe ich mit den Knien noch nie Probleme gehabt. Die Schmerzen nehmen von Meter zu Meter Wegstrecke zu, halten sich aber noch in einem vertretbaren Rahmen und die 3-4 Kilometer bis zu den Horombo Huts wird es wohl noch gut gehen.

Der im Buch schon erwähnte „Last Water Point“ liegt bereits hinter uns. Beim Aufstieg wäre dieser Platz die letzte Möglichkeit zur Wasserversorgung gewesen. An der Kibo-Hut selbst und weiter oben gibt es kein Frischwasser mehr.

Zwischen den Horombo Huts und der Kibo-Hut gibt es zwei verschiedene Routen, die von uns genommene Lower Route und die am Zebra Rock vorbeiführende Upper Route. An der distalen Abzweigung zur Upper Route legen wir eine kurze Pause ein, der Zebra Rock ist zwar in der Ferne zu sehen, Mawenzi und Kibo sind aber inzwischen gänzlich in Wolken gehüllt.

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Landschaften auf der Lower Route

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Landschaften auf der Lower Route, ganz im Hintergrund der Zebra Rock, weiter vorne sind einige Senecien erkennbar

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Horombo Huts, 3720m ü.NN

Kurz nach 16 Uhr erreichen wir bei Sonnenschein die Horombo Huts. Idyllisch an einem Berghang gelegen sind die vielen Dreieckshütten der Marangu-Route. Sie sind die einzigen Hütten, welche sowohl bergaufwärts als auch bergabwärts gehend als Übernachtungsstätte genutzt werden. Die „Rongaiianer“ müssen aber hier in Zelten übernachten. Auch heute wollen sich die Träger nicht beim Zeltaufbau helfen lassen, eine von mir spendierte Runde Kilimanjaro Bier (beim „Hüttenwirt“ gekauft) schlagen sie natürlich nicht aus.

Erstmals haben die Träger und der Guide Ihr Zelt in unmittelbarer Nachbarschaft zu meinem Zelt aufgebaut. Somit lerne ich jetzt auch endlich zweifelsfrei die gesamte Begleitmannschaft kennen. Aufgrund der 2 Gruppen an den ersten Tagen und der weit entfernt aufgebauten Zelte, war ich mir bei einer Person der Begleitmannschaft noch nicht ganz sicher.

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Horombo Huts  -  Unser Team, Guide Fransis 2.v.l.

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Horombo Huts  -  Küche und Schlafzimmer vom Guide und den Trägern

Heute gibt es auch wieder eine Kloschüssel in Spülform mit fließendem Wasser, wir nähern uns wieder unaufhaltsam der Zivilisation. Auf 3720m Höhe befinden wir uns immer noch über den Wolken, hier ist Sonnenschein und unter den Wolken Dunst.

Da unser Zeltplatz etwas auf einer Anhöhe liegt, lässt sich die Zeit bis zum Abendessen durch das Beobachten des Hüttenbetriebs leicht vertreiben. Noch spät um 17.30 Uhr kommen Bergwanderer sowohl talseits von den Mandara Huts als auch bergseits von der Kibo-Hut an. Gerade die Aufsteiger von unten um diese Uhrzeit sind doch etwas verwunderlich.

Nach dem Abendessen im Zelt nutze ich die verbleibende Zeit bis zum Schlafen mit der Verarbeitung der heute reichlich gesammelten Eindrücke.

 

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