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Mehr als knietiefe Schneeverhältnisse und fehlende Spuren rund um den Thorong La

Tag 12 (14.10.2014): Thorong La High Camp - Thorong La - Muktinath

Hinweis: Auf dieser Seite beschreibe ich einen gänzlich anomalen Tag einer Reise. Ob ich bei den folgenden Beschreibungen immer die chronologische Reihenfolge einhalte, kann ich nicht zweifelsfrei sagen. Zugetragen hat sich dies alles, und leider noch vieles mehr. Auch die “gesprochenen” Worte dürften nicht immer dem exakten Wortlaut entsprechen (ist auch schwierig bei deutsch und englisch gemischt, jedes Wort sich dann zu merken und all dies später wörtlich oder sinngemäß übersetzen zu können).

Denn wer denkt schon während des Tages,

dass mindestens 43 Personen ihr für heute fest geplantes Tagesziel im “Großraum” Thorong La nicht mehr lebend erreichen werden und heute mindestens 175 Personen rund um den Thorong La z.T. bleibende Verletzungen erleiden werden (Quelle: siehe Wikipedia).

thorongla-vom-chulu-west

Blick vom Chulu West westwärts in Richtung Thorong La - Grün: Thorong La High Camp; Rot: Thorong La Pass

Aber nun alles der Reihe nach, zur besseren Übersicht habe ich mehrere Zwischenüberschriften eingefügt:

 

Aufbruchstimmung

Kurz vor 3:30 Uhr werde ich wach, im Zelt ist es noch nicht komplett abgedunkelt, d.h., das Zelt befindet sich also noch nicht gänzlich unter dem Schnee begraben. Im Zeltinnern ist es trotz der Höhe von 4900m ü.NN eigentlich gar nicht so kalt, da dürfte der Schnee an der Außenseite als gute Isolationsschicht wirken.

Beim Verlassen des Zeltes zum ersten Pinkelstopp am heutigen Tag fällt mir auf, dass sich die Schneemassen seit meinem letzten Boxenstopp um 22 Uhr nachts zwar vermehrt haben, aber nicht um dramatische Mengen. Es dürften jetzt etwa 20-30cm Neuschnee am eben gelegenen Zeltplatz liegen.

highcampschnee

3:30 Uhr - Thorong La High Camp: Blick aus dem Zelt zum Zelt der Mannschaft, links Abdeckplane mit Ausrüstung

Auch aus dem Mannschaftszelt sind jetzt Geräusche zu vernehmen. Als Erster verlässt Guide und Koch Ram prasad das Zelt und geht zur Abdeckplane, wo meine Begleitmannschaft ihre komplette Ausrüstung gelagert hat. Bei 5 Mann in einem 2,5mx2m großen Zelt gibt es für solche Dinge wirklich keinen Platz mehr. In stoischer Ruhe packt Ram prasad zunächst seinen Eispickel aus und beginnt mit dem strukturierten Sortieren der Schneemengen rund um Abdeckplane und den Zelten.

Damit meine Mannschaft weiß, ich bin wach und alles ist in Ordnung, gehe ich zum Zelt und wünsche ein freundliches »Namaste«. Nur bei Shukra Bir bin ich mir aufgrund seines Gesichtsausdrucks nicht ganz sicher, ob er davon überzeugt ist, inwieweit bei mir alles in Ordnung ist. Ich stehe noch barfuß in meinem Schlafanzug (kurzes T-Shirt und kurze Unterwäsche) im tiefen Schnee vor dem Zelt bei deutlichen Minustemperaturen.

Seine Frage »Keine Schuhe an hier im kalten Schnee?«

beantworte ich mit »Nö, dann werden wenigstens die Tevas nicht nass, bis ich sie im Packsack verpacke!«.

Nach Erledigung der drängendsten Angelegenheiten beginne ich mit dem Verpacken meiner Ausrüstung.

Wir haben Neuschnee ohne Altschneelage, deshalb lasse ich meine Grödel im aufgegebenen Gepäck. Meine Hardshell-Jacke packe ich aber zusätzlich in den Rucksack ein, könnte ja zusätzlich zur Kälte noch nass und windig werden und dann wäre die Daunenjacke als wichtigster Witterungsschutz schnell an ihrem Grenzbereich angelangt.

Erstmals seit dem Chukhung Ri im Everestgebiet in der letzten Herbstsaison bin ich auch „untenrum“ wieder winterhart angezogen, d.h. zwischen Trekkinghose und kurzer Unterwäsche gibt es noch die langen Liebestöter. Wobei die “langen Liebestöter” sind auch nichts anderes als eine lange “260-er” Merino-Unterwäsche. Über der Trekkinghose dient dann die Regenhose als Wetterschutz und zugleich als Gamasche. Obenrum ist es dann das kurze Trekkinghemd, ein altes Hanes-Sweatshirt und meine (Expeditions-)Daunenjacke mit Kapuze, sinnigerweise eine Mountain Equipment Annapurna, und Fingerhandschuhe. Wobei die Handschuhe nicht unbedingt für kalte und nasse Bedingungen geeignet sind, dafür gibt es aber in der Daunenjacke extra Handschuhtaschen. Einen Ersatzakku für die Kamera trage ich sicherheitshalber in der innersten Jackentasche. Man weiß nie, wie kalt es oben um den Pass herum werden kann.

Die ruhige und zielgerichtete Art und Weise wie das ganze Team heute arbeitet, lässt mich vermuten, dass solche Bedingungen wie gerade jetzt hier gar nicht so unüblich sein dürften.

Nur unser Starttermin mit 4:15 Uhr dürfte sich unmöglich halten lassen, es dauert wegen der aktuellen Witterungsbedingungen einfach alles länger, trotz tatkräftiger Mithilfe meinerseits beim Abbau (normalerweise lassen sie mich sonst nie mithelfen).

Auch einer der Träger überrascht mich heute, er war bis jetzt immer in Badelatschen unterwegs und heute steht er in Schuhen da, die durchaus auch ein Meindl Island sein könnten und es wahrscheinlich auch sind. An den Vortagen hatte ich die Thematik „Schuhwerk“ schon einmal angesprochen und u.a. gesagt: »Jeden von uns, den ich ohne vernünftiges Schuhwerk am Pass sehe, den streiche ich das Trinkgeld und für euch als Guides gibt es 10% Abzug für jeden „Ertappten“!«.

Auf meine Frage: »Wie habt Ihr denn diese Schuhe da wieder organisiert?«

antwortet Shukra Bir: »Gar nicht«.

»Wie gar nicht?« frage ich verdutzt zurück und Shukra Bir sagt:

»Er war vor zwei Jahren mit 18 Jahren ganz oben auf dem Mera Peak und seither hat er sie. Er zieht sie aber nur an, wenn es unbedingt sein muss, damit sie auch lange halten! Solche Schuhe bekommt man selten geschenkt und sie passen ihm auch noch richtig gut!«. Anmerkung des Verfassers: Der Aussichtsberg Mera Peak ist mit fast 6500m Höhe der wohl höchste Berg der Welt, der von Trekkern noch ohne Expeditionserlaubnis aber unter erschwerten Bedingungen (Steigeisen) „erwandert“ werden darf.

Vor dem Start gibt es für mich noch ein persönliches Problem zu lösen, schaffe ich bis dorthin noch ein großes Geschäft oder nicht? Die Strecke heute ist sicherlich gänzlich vegetationslos und Versteckmöglichkeiten für die Erledigung und Ergebnisse des großen Geschäfts dürften keine vorhanden sein. Und viele Stunden mit Pobackenübungen und mit der Angst herumzulaufen, dass es bei den in diesen Höhen wesentlich häufiger erforderlichen Druckausgleichsmaßnahmen im Verdauungsapparat zu Phasentrennungen kommen könnte, dies will ich mir nicht antun. Aber meine Wünsche werden erfüllt und es verwundert mich, dass vor den wenigen Latrinen um diese Uhrzeit gar nichts los ist, trotz Überbelegung der Legebatterien hier. Haben die alle heute verschlafen?

Es ist fast 5 Uhr, bis wir soweit fertig sind, dass wir starten können.

Wir werden zwei Teams bilden, einer der Guides und ich und der zweite Guide und die Träger als zweites Team. Und wir machen aus, dass wir uns spätestens oben am Häuschen am Pass treffen und dort nur gemeinsam weiter- oder zurückgehen, egal was passiert!

Beim „Briefing“ sage ich zu Shukra Bir und Ram prasad, dass ich heute deutlich langsamer sein dürfte im Vergleich zu den Vortagen. Meine Erkältung ist zwar fast gänzlich weg, ich fühle mich pudelwohl ohne irgendwelche Anzeichen von höhenbedingten Unpässlichkeiten (eine „Höhenkrankheit“ ist für mich keine Krankheit, sondern das Ergebnis der Unfähigkeit des eigenen Körpers auf die geänderten Bedingungen in der Höhe zu reagieren), aber es war verdächtig wenig Schleimlösung nach meiner Erkältung in den letzten Tagen. Ich weiß nicht, war es nicht mehr Schleim oder ist da höhenbedingt eingetrockneter Schleim noch in der Lunge. Als „Zwergfellatmer“ benutzt man als Standardatemreservoir andere Lungenbereiche im Vergleich zu einem „Brustkorbatmer“.

Durch die Höhe bedingt verliert man beim Atmen schon sehr viel Flüssigkeit. Es kann also sein, dass der Schleim eingetrocknet ist. Ein ähnliches Phänomen hatte ich vor Jahren in Bolivien in 4000m Höhe. Aus der Freude, dass bei einem Schnupfen die Nase nicht läuft, wurde später die Erkenntnis, dass der deshalb eingetrocknete „Rotzballen“ irgendwo in der Nebenhöhle auf einen Nerv gedrückt hatte und ich als Folge tagelang massivste Schluckbeschwerden hatte (und sonst gänzlich beschwerdefrei war).

Als Folge daraus werde ich heute versuchen, ein bestimmtes Belastungsprofil nicht zu überschreiten, d.h. ich dürfte wahrscheinlich viele Pausen machen. Und eine 100%ige geistige Flexibilität hat hier für mich deutlich den Vorrang vor dem Genießen körperlicher Höchstleistungen. Das „Geil Puls 250 ohne schwarz vor Augen“ und dann den Guide fragen „Is heute Bundesliga?“ kann ich mir ersparen.

Gesund und munter in Muktinath ankommen ist wichtig, wie lange ich bis zum Pass brauche, ist zweit- oder drittrangig!

Das Ersteres für einige Leute, die auch heute über den Pass wollen, absolut unmöglich werden wird, von dieser Information sind wir noch weit entfernt.

Auch wenn die Verantwortung als Arbeitgeber der Begleitmannschaft bei der Agentur in Kathmandu liegt, ich darf es mir unter keinen Umständen erlauben, nur wegen meines Ansinnens an einem bestimmten Tag über den Pass zu wollen, dass die Gesundheit der Mannschaft unnötig gefährdet wird! Auch darf mein Verhalten heute keinen Einfluss auf die Unversehrtheit anderer Menschen haben.

Für mich heißt es jetzt noch einmal in mich zu gehen und die aktuelle Situation zu analysieren und Schlüsse daraus zu ziehen, wie auf die geänderten Bedingungen eingegangen werden soll.

Der Schnee hat hier 30cm, also dürften es oben am 550m höher gelegenen Pass max. 50cm Schnee sein, Schneeverwehungen nicht berücksichtigt. Hier ist der Schnee ein „angenässter“ Pulverschnee oder ein trockener Pappschnee. Da es aktuell keine Föhnwetterlage ist, dürfte der Schnee weiter oben auch nicht nässer sein, eher trockener und flugfreudiger. Die Schneemassen dürften zur Gänze Neuschnee sein, also keine lawinenfördernde Schneeschichten.

Hier am Highcamp ist kaum Wind, es schneit großflockig aber kristallig, d.h. der Schnee wird sich verzahnen, passt also. Wir sind spät dran, d.h. vor 7 Uhr sind wir unmöglich am Pass, es wird also oben kalt und sehr windig werden. Der Thorong La Pass ist bekannt dafür, dass es ab 7 Uhr am Pass sehr windig sein kann.

Starken Wind in Tateinheit mit Neuschnee kenne ich schon aus heimischen Gefilden nicht unbedingt als eine die Sicht fördernden Angelegenheiten. Da wird es oben und um den Pass herum nicht nur weiß am Boden sein.

Hier auf 4900m haben wir keinen Nebel, ob es dort oben auch so sein wird?

Ich vermute, dass der Pass windbetreffend eine nicht geringe Düsen- bzw. Injektorwirkung haben wird, d.h. nach dem Pass dürfte es größere Windturbulenzen und höhere Schneemengen geben als vor dem Pass. Ich denke mal, dass auf der Leeseite (gleich windabgewandten) mit einer Differenz von 100m Höhenmetern zu rechnen ist. Wird es z.B. auf 5300m vor dem Pass witterungsbezogen „knackig“, dann dürfte dies bis auf 5200m auf der windabgewandten Lee- bzw. Muktinath-Seite andauern.

Gibt es überhaupt schon eine Spur oder erkennt man die richtige Spur anhand der Geländebedingungen?

Es ist ja alles Neuschnee und beim Gang zu den Latrinen war der Schnee außerhalb des Lagers noch jungfräulich.

Unter normalen Bedingungen wäre es laut Reiseführer, auf dessen genannte Gehzeiten bis jetzt fast immer Verlass waren, 3 Stunden von hier bis zum Pass.

Rechnen wir mal 1 Stunde für den Schnee und 1 Stunde für mein heutiges Tempo dazu, dann heißt es 10 Uhr am Pass. Vom Pass bis nach Muktinath sind es normal 3,5h, rechnen wir heute mit 5h und 30 Minuten Pause oben am Pass, dann dürften wir, wenn nicht Gröberes passiert, um 15:30 Uhr in Muktinath sein. Ab 17:30 wird es schnell dunkel, trotz verspätetem Start haben wir also genügend Zeit und Verlaufen soll man sich hier ja kaum können.

Ein leicht in die Welt gesprochener Satz eines noch Unwissenden.

Wir müssen uns jetzt schon vor Augen führen, wann heute welche Entscheidungen spätestens getroffen sein müssen und müssen dies auch immer wieder gegenprüfen.

Und zu allem Überfluß ist heute wieder Oktober der 14., auf den Tag genau ein Jahr seit dem Schneechaos und den Lawinenabgängen bei meiner Everestrunde 2013.

Der Weg beginnt

Kurz nach 5 Uhr starte ich mit Shukra Bir.

Zunächst müssen wir ein paar Höhenmeter nach oben, bis wir das „Hauptlager“ erreicht haben. Alle Spuren dorthin und zurück passen nur zu meiner Schuhgröße.

Nach dem Satz von mir zu Shukra Bir »Schau’mer mal, wie hart es wirklich wird!« gehen wir im Schnee in die Nacht.

Schon nach einigen Metern ist klar ersichtlich, eine Spur ist heute noch nicht nach oben gelegt worden, im Lager unten herrscht auch nur eine begrenzte Betriebsamkeit. Es warten aber schon einige Menschenansammlungen, dass sie starten können. Shukra Bir legt die Spur an und ich versuche meine Fußtritte genau in seine Tritte zu legen, damit schöne Trittstufen entstehen und es für die Nachfolgenden weniger anstrengend werden wird, nach oben zu gelangen. Nur Schrittgröße und Schuhabdruckgröße differieren zwischen mir und Shukra Bir schon deutlich (Schuhgröße 44 bzw. 10,5 zu 35+x, Körpergröße 1,85m zu max. 1,60m), aber irgendwie kriegen wir das schon hin.

Auf dem ersten “Hausberg” nach dem Lager angekommen, sage ich zu Shukra Bir, dass es in der aktuellen Art und Weise nicht weitergehen kann. Ich rede weiter, dass ich keine Lust habe, im knietiefen Schnee mit ihm für alle anderen stundenlang den Spurbob zu spielen. Irgendwie habe ich das Gefühl, Shukra Bir legt die Spur zu nahe an der Direttissima an.

In der Ebene wäre mir dies egal, aber konstitutionsbedingt haben meine für die Körpergröße und -masse eher zu kurz geraden Beine beim hohen Anheben der Beine raus aus dem Schnee und den Berg nach oben gehen wesentlich mehr Aufwand zu treiben. Wenn sich keiner erbarmt, dann gibt es heute keinen Pass und auch kein Muktinath. Aus, pasta!

Aber wir müssen keine fünf Minuten warten, bis die erste Gruppe an uns vorbeimarschiert, zwei Bergführer voraus und die Meute hinterher. Die Meute oft damit kämpfend, wie man die Stöcke ohne Schneeteller mit möglichst wenig Nachteilen und Kollateralschäden benützen kann.

Am Zelt waren es 30cm Schnee, jetzt ist es hier knietief, sind es dann 3 Meter am Pass?

Darüber mache ich mir aktuell überhaupt keine Gedanken, denn knietief ist er hier vor und nach einem kleinen Kamm, also dürfte er abseits davon auch nicht tiefer werden, eher sogar weniger. Von unseren kleinen Aussichtspunkt haben wir einen schönen Blick in den beleuchteten „Innenhof“ des Lagers, inzwischen stehen die Trekker dort in längeren Zweierreihen vor den beiden Latrinen an.

Wo kommen denn die ganzen Leute her?

Am Anfang meiner Tour war fast nix los und jetzt kriechen sie aus allen Ecken und Enden heraus. Dass sind ja mit den Einheimischen ein paar Hundert!

Schon die ersten Meter nicht selbst gespurter Neuspur zeugen davon, dass der oder die beiden neuen Spuranleger ihr Handwerk verstehen und die Spurführung so machen, wie ich sie auch machen würde. Nur die „Nachfolgegeneration“ macht schon aus der besten Spur Schrott, kaum einer tritt in die Tritte des Vordermannes.

Für Nachfolgende bleibt dann nur noch ein Wirrwarr an festgetretenem Schnee oder auch mal wieder nicht festgetretenem Schnee, jeder Schritt dann ein neues Erlebnis. Haben die denn keine Ahnung, was eine Spur ist und wie man sie für die Nachfolgenden konserviert! Zu Bundeswehrzeiten hätte man gesagt: »Kameradenschweine«.

Nach den ersten „Steilanstiegen“ wird es wieder ebener und die zusammengetretene Spur macht jetzt weniger Zusatzaufwand notwendig. Ich kann zwar dem Tempo der Vorauslaufenden folgen, brauche aber wegen der mir selbst auferlegten Beschränkungen mehr Pausen. Eigentlich hatte ich als Belastungsgrenze einen „klopfenden“ Puls im Hals festgelegt, aber der persönliche Begrenzungslevel liegt schon früher an. Wegen der unruhigen Spur ist sehr viel Nivellierarbeit mit den Knien und den Unterschenkeln notwendig. Aufgrund der nicht niedrigen Schafthöhe meiner Bergschuhe, auch noch gepaart mit einem ungünstigeren Hebelarm zum Knie, bin ich stärker mit dem Ausgleichen beschäftigt wie zuvor angenommen.

Wird dieser Beschäftigungsanteil zu hoch bzw. ich merke, dass dies eintreten würde, dann trete ich an einer geeigneten Stelle komplett aus der Spur und warte etwas, man will ja niemanden behindern. Da ich ja nicht wirklich außer Atem bin, auf über 5000m ist man eigentlich nur beim Luftanhalten nicht außer Atem, reicht es eigentlich immer zu einem kleinen Gespräch mit Shukra Bir.

Als erster Meilenstein beim Aufstieg steht die Querung einer doch sehr imposanten Stahlbrücke hier auf gut 5000m an. Ein Bauwerk, welches man hier oben so nicht vermuten würde. Gab es bis jetzt fast immer nur Hängebrücken oder Holzbrücken, so steht hier mitten im Nichts eine gut 40m lange DIN konforme panzertaugliche Stahlträgerbrückenkonstruktion. Da es doch noch sehr dunkel ist, verzichte ich darauf, den Fotoapparat aus dem Rucksack zu nehmen.

Irgendwie wird es heute auch nicht richtig hell.

Es ist zwar kaum Nebel, aber in der Ferne gibt es überhaupt keine Sicht. Vor einem steileren Gegenanstieg (ich weiß aus der Erinnerung nicht mehr, ob es schon bei der Bachquerung über den Steg oder erst später bei einem Steinhaus auf dem Weg war bzw. ob dies ein oder zwei Ereignisse waren) machen wir eine etwas längere Pause.

Ich bin zwar sehr langsam unterwegs, könnte also beim Warten außerhalb der Spur zu jedem heute auf der Strecke ein »Namaste« sagen, aber ich bin zufrieden.

Was mir aber jetzt schon auffällt, unter den Trekkern müssen auch welche sein, die wahrscheinlich noch nie Schnee unter ihren Füssen hatten. Auch ihre Ausrüstungen sind manchmal interessant. Sind sie bei Trägern oft nur verschlissen, so sind viele Trekker doch neu ausgestattet, aber eher mit Feinkost Albrecht (wenn es den außerhalb Deutschlands auch gibt) als Hauptlieferant.

Ob solche Outdoorsachen nicht ein wenig zu unrobust sind?

Vom Schuhwerk gibt es von Tevas bis zu normalen Bergschuhen alles, nur quasi steigeisenfeste wie meine Schuhe sehe ich kaum. Und manch Einer müsste doch mehrere Lagen dickste Unterwäsche unter den dünnen Außenjacken tragen, was ich mir aber bei den figurbetonten Schnitten von Jacken und Hosen nur bedingt vorstellen kann.

Ob sich das später nicht noch rächt, auch wenn es nur noch gut 400 Höhenmeter bis oben sind?

Den Vogel schießt aber ein vermeintliches Double einer Person des bekannten Survival-Duo vom TV-Sender DMAX ab: Caprihose und bei der Fußbekleidung dann Plastiktüte, dicke Socken und Sandalen, da friert es mich ja schon vom Zuschauen. Mit Daunenjacke sind auch einige unterwegs, dies sind aber meist die ganz dünnen oder die Thamel-TNF-Variante (für Unwissende: TNF ist die geläufige Abkürzung für eine sehr bekannte Outdoormarke und Thamel steht für “Fake”, gekauft im gleichnamigen Stadtteil von Kathmandu). Mit dicker Daunenjacke bin ich allein auf weiter Flur.

Vor der ersten größeren Rast hatten mich auch schon meine Träger überholt, sie waren einige Minuten nach mir gestartet. Bevor wir weitergehen, beschließen wir ohne mein Zutun, dass jetzt Ram prasad bei mir bleibt und Shukra Bir mit den Trägern bis zum Pass vorausgeht. Sie sind schneller als ich und immer Warten in der Kälte hat keinen Sinn. Oben am Pass gibt es eine Hütte, wo sie dann im Warmen auf mich warten können.

Die Begleitung durch Ram prasad hat für mich noch einen weiteren Vorteil: er trägt wie schon wie an den Vortagen mein aufgegebenes Hauptgepäck, d.h. im Falle des Falles könnte ich sehr kurzfristig auf 100% meiner Ausrüstung zurückgreifen.

Langsam und mit vielen Pausen geht es immer nach der identischen Leier weiter, nur mit der Zeit wird die Sicht schlechter. Da man meist zwischen zwei „endmoränenartigen“ Erhebungen unterwegs ist, kann man die tatsächlich mögliche Sichtweite nicht abschätzen. Irgendwann müssen wir doch dann auch in die windreicheren Regionen vorstoßen, hatte sie eigentlich schon hier erwartet. Was mich hier schon etwas stutzig macht: die umgebenden Berge sind nicht zu sehen. Liegt es am Schnee und dem heute bescheidenen Tageslicht oder ist der Nebel wesentlich stärker als vermutet? Da mein Gesicht und v.a. die Klettverschlüsse der Jacke noch eisfrei sind, dürfte es (noch) nicht am Nebel liegen.

Ich sage zu Ram prasad: »Du wirst sehen, wenn jetzt die Sicht weiter oben vielleicht noch schlechter wird, dann können wir davon ausgehen, dass die Leute dann wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen das Weite suchen und sich Keiner mehr für den Anderen interessiert! Jeder kümmert sich nur noch um sich selbst. Dann können alle Anderen selber schauen, wie sie weiter kommen. Das täte mich schon sehr wundern, wenn’s nicht so kommen wird!«

Ankunft im Auge des Schneesturms

Nur mit der mentalen Freiheit bei den ersten Trekkern dürfte es inzwischen nicht mehr weit her sein.

Wie ein Häuflein Elend sitzen zwei Trekkerinnen im Schnee und machen auf mich den Eindruck, dass sie mit der Welt am Ende sind. Bis ich auf deren Höhe bin, werden sie aber schon von anderen Guides eindringlich aufgemuntert alles andere zu tun, nur nicht hinsetzen. Und dies sagen die Guides nicht ohne Grund: würde man sich in großen Höhen zu zügig vom Hinsetzen erheben, dann kann es zu einem massiven Abfall des Blutdrucks kommen, der dann eine Ohnmacht oder auch einen Kreislaufkollaps zur Folge haben kann.

Mit Shukra Bir und Ram prasad habe ich vereinbart, dass, wenn ich mich auf der Passetappe freiwillig außerhalb eines Gebäudes hinsetzen würde, dies für sie bedeutet, dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne wäre und ein absoluter Notfall vorliegen würde. D.h. runter von der Höhe, schnellstmöglich, egal wie und wenn sie mich einfach den Abhang runterrollen.

Auch wenn man jetzt die ersten Maultiere, nicht verwandt oder verschwägert mit rosa Elefanten, sieht, der Sinneseindruck hat seine Richtigkeit. Man kann für den Passaufstieg auch Maultiere buchen und als Immobilie auf den Tierrücken zum Pass gelangen. Aber wie lange dann oben am Pass das Auftauen dauert sei dahingestellt. Wie festgefroren sitzen die Reiter für wahrscheinlich mehr als 200USD auf den Maultieren.

Beim Blick auf meinen Höhenmesser erkenne ich, dass wir jetzt gut 5250m Höhe erreicht haben.

Der Wind wird jetzt immer stärker und somit auch die Sicht immer schlechter. Die vielen Schlaglöcher in der schlechter werdenden Schneespur sind immer noch die gleichen. Wenn ich Ram prasad so anschaue, dann sind sein Pokerface und seine Augen noch ein Herz und eine Seele. Er bietet sich an, meinen Rucksack zu übernehmen, da sage ich nicht nein, sind für mich wegen der schweren Kamera (2,5kg) 10kg weniger zu tragen.

Inzwischen sieht man auch zur Orientierung keine der eigentlich vorhanden “Bergwände” auf der rechten und linken Seite mehr. Und ob ich den Personen vor mir im “Noch-Sichtbereich” zwecks richtiger Route noch trauen kann, bezweifle ich immer mehr.

Während einer schöpferischen Pause frage ich Ram prasad danach, wie es um den Pass herum “normalerweise” ausschaut. Die Sicht könnte ja nochmals schlechter werden und ich habe keine Lust am Pass vorbei zu laufen und dann mit riesen Umwegen oder gar nicht im Tal anzukommen. Folglich versuche ich, mir die heute unsichtbare Umgebung bildlich aus den Beschreibungen von Ram prasad in meinen Gehirnwindungen einzuprägen.

Ram prasad sagt mir, dass wir uns eher hangaufwärts rechts halten sollen und bei einer Gesteinsformation, die er mir beschreibt, etwa 50 Höhenmeter unterhalb des Passes diese mit Abstand links unterhalb umrunden sollten, d.h. sie liegt oberhalb der eigentlichen Strecke. Dann sind es noch 10 bis 15 Minuten bis zum Pass. Wenn mein Höhenmesser 5350m anzeigt, soll ich es ihm sagen. Ich versuche mir im Kopf aus den Beschreibungen von Ram prasad ein Bild bzw. einen “Film” von der nicht zu sehenden Landschaft zu machen.

Hoffentlich bin ich dann später nicht im falschen Film!

Aus dem Wind wird jetzt langsam ein richtig heftiger Orkan. Wegen meiner dicken Daunenjacke und der aufgesetzten dicken Kapuze der Jacke ist mir der Fast-Rückenwind zuvor kaum aufgefallen.

So wie ich die Menschen kenne, wird es ab jetzt vor uns keine Polonaise an Menschen mehr geben, sondern Jeder wird für sich sein eigenes Süppchen kochen und nur noch bedingt auf seine Umwelt achten.

Hoffentlich geht da ab jetzt niemand verloren!

Wer hat den Weg geklaut?

Hatten wir bis jetzt noch eine zu verfolgende Spur, so wird diese von Minute zu Minute nur noch eine konturlosere Schneewüste. Es besteht keine Chance mehr, die Lage der Fußstapfen eines 10-15m vor mir Laufenden zu identifizieren. Der extreme Wind begräbt mit dem Schnee einfach alles. Und die reine Neuschneelage verbessert die Orientierung um keinen Millimeter.

Es ist keine Spur mehr da, nichts mehr!

Keine Anzeichen dafür, wo der Schnee irgendeine Spur verweht hätte! Wenns jetzt heute keine reine Neuschneelage wäre, dann könnte man sich wenigstens ein bisschen einfacher orientieren.

Ich sehe vor mir nur noch einige Einzelkämpfer und diese sind deutlich langsamer als ich.

Beim letzten Blick hinter mir vor geraumer Zeit, konnte ich bereits erkennen, dass Ram prasad und ich heute die Lumpensammler sind. Hinter uns ist im weiten Bereich Keine(r) mehr. Auch Ram prasad hält sich schon seit geraumer Zeit nur noch hinter mir auf. Dies wird mir erst jetzt bewusst.

Kennt er den Weg nicht (mehr) oder ist er froh, dass ich den Weg suche?

Aber sind wir überhaupt noch auf dem richtigen Weg?

Sind wir überhaupt noch in der Nähe eines zum Pass führenden Weges?

Ein ständiges Auf- und Ab vor dem Pass steht zwar in den Reiseführern, der Abstand der ganzen Zwischenhügel ist mir aber fast zu gering. Und die Sicht ist inzwischen sehr bescheiden, vielleicht noch maximal 30m (es können aber auch nur 15m sein, da keine Vergleichsmöglichkeiten vorhanden sind) bei „Normalwind“ und bei einer Böe ist es sekundenlang nur noch weiß, mit einer Sichtweite bei fast null Meter.

Gilt null Meter Sicht überhaupt noch als Sichtweite?

whiteout

Zur Verdeutlichung, auch wenn dieses Foto erst deutlich später auf der Wegstrecke aufgenommen wurde (rund um den Pass) und auch nur ein Teil der ganzen Aufnahme zeigt: Es ist gerade kein Whiteout und mehr zum Orientieren ist nicht da! Anmerkung des Verfassers: In der damaligen Situation hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht fotografiert, denn wer denkt denn schon, dass ... .

Wenn ich nicht wüsste, dass mein Fingerhandschuh fünf Finger sein eigen nennt, allein aus dem fast nicht zuerkennenden Grauschleier der vor den Augen ausgestreckten Hand könnte ich sie nicht mehr erkennen. Es lässt sich eigentlich gar nicht mehr abschätzen, ob wir uns im Tal zwischen den Kamelbuckeln oder obenauf befinden.

Nur der Wind direkt von hinten kommend zeigt an, dass die bis jetzt von uns eingeschlagenen Gehrichtungen gar nicht so falsch sein können.

Jetzt heißt es immer wieder von Neuem die Umgebung und die Lage der Vorauslaufenden zur Umgebung zu beobachten, damit wir auch nach der nächsten schneeweißen Böe noch wissen, wo es weiter geht.

Mir kommen die Worte meines Guides bei einer "einfachen" Wanderung im venezolanischen Dschungel vor zwei Jahren in den Sinn: ich hatte gesagt, dass ich den Baumstamm auf der Strecke im dichten Dschungel wiedererkenne, er mir aber sagte, mein Baumstamm liegt 50m weiter drüben, wir uns also mit meiner Orientierung vollkommen verlaufen würden:

Er sagte damals: "Orientiere Dich nicht an dem, was Du meinst schon einmal gesehen zu haben, sondern daran, was in die Situation nicht reinpasst!"

Wie aus dem weißen Nichts tauchen zwei bis drei Meter vor uns mehrere Maultiere auf, die uns ohne Besatzung und auch ohne Begleitung entgegen kommen. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: die Maultiere kennen den Weg nicht und nutzen mich und Ram prasad als Orientierung oder, was ich vermute, sie gehen den Weg, den sie jeden Tag gehen, v.a. wenn sie ohne Führer unterwegs sind.

Folglich sollten wir uns eigentlich auf dem richtigen Weg befinden.

Trotz der tatkräftigen “Mithilfe” der Maultiere, eine strukturierte Orientierung ist eigentlich fast nicht mehr möglich. Die Orientierung besteht jetzt fast nur noch aus einem “was mache ich jetzt definitiv nicht!”.

Wo ist nun die von Ram prasad beschriebene Gesteinsformation?

Sind wir schon daran unbemerkt vorbei?

Wir sind wieder an einem Scheidepunkt angekommen. Am aktuellen Standpunkt ist es es nach links durch ein “Minital” leicht hügelig, geradeaus steigt es etwas an und am darauf folgenden “Hochplateau” gut einen Meter über unseren aktuellen Niveau sind kleine schwarze Felsinseln im sonst nur weißem Schneefeld zu sehen.

Wie gehen wir jetzt weiter, geradeaus oder halblinks?

Ich frage Ram prasad, wo er weitergehen würde und stelle bewusst keine Ja/Nein oder Bevorzugt-Diese-Antwort-Frage. Er ist jetzt selber auch am Rätseln. Da er als Koch auf der Annapurnarunde nur selten gebraucht wird, macht er die Route nicht regelmäßig, aber dennoch oft genug. Ich sage ihm, dass mein Höhenmesser 5380m anzeigt, wegen des Sturms dürften wir aber einen erhöhten Druckabfall haben, d.h. von dem Wert dürfen wir bis zu 50m Höhenmeter abziehen.

Ich erhalte keine Antwort.

An Ram prasad erkenne ich, dass sein Pokerface und seine Augen inzwischen zwei grundsätzlich unterschiedliche Sprachen sprechen.

Die kleine Querung mit einem angeschlossenen Absatz würde eigentlich einen Weg nach links abbiegend vermuten lassen, also die logische Variante sein. Aber irgendetwas leitet mich jetzt in gerader Richtung weiter und ich folge meinem Bauchgefühl.

Obwohl ich langsam unterwegs bin, habe ich das Gefühl, ich hole wieder auf. Manchmal lässt sich im weiß der Umgebung vor mir wieder Personen erkennen. Aus dem Zick-Zack der inzwischen sehr langsam vor uns Laufenden werde ich nicht mehr schlau.

Welcher von diesen Personen eingeschlagene Weg könnte da irgendwie zielführend sein?

Im 120° Richtungswinkel vor uns ist alles dabei.

Selbst den vermeintlich richtigen Weg zu suchen und dabei darauf zu achten, unter allen Umständen Keine(n) der in “weiter Umgebung” um mir Laufenden aus den Augen zu verlieren, ist alles andere als einfach. Da die “um mir Laufenden” wahrscheinlich körperlich und mental völlig am Ende sind, vereinfacht dies die Sache jetzt überhaupt nicht.

Und an welcher von den vorauslaufenden Personen sollen wir uns am besten halten bzw. auf welche Person am meisten aufpassen?

Ich beschließe, der in Gehrichtung am weitesten rechts von uns befindlichen Person diesbezüglich unser besonderes Augenmerk zu widmen. Wenn ich schon aus einem Bauchgefühl heraus den vermeintlich „normalen“ Weg verlassen habe, dann sollte man sich auch für diese Option entscheiden. Ich gehe die ersten Schritte dorthin weiter und vergewissere mich, dass Ram prasad diese Entscheidung auch mitträgt.

Bei der in Laufrichtung an der weitesten rechts befindlichen Person dürfte es sich bezogen auf den Körperbau, von unserer Entfernung aus gesehen, und von der Farbe der getragenen Kleidung um eine Frau handeln. Die Jacken- und Hosenfarbe dieser Frau ist nach weiß so ziemlich die ungeschickteste “Tarnfarbe” für den heutigen Tag, da wäre ja grau noch besser.

Die Frau sitzt an einem kleinen Felsen und steht gerade im Augenblick von diesem wieder auf. Nach einigen Metern Fußmarsch setzt sie sich aber wieder auf einen etwas noch weiter abseits gelegenen Felsen erneut hin.

Ich erkenne, dass die Frau keinen Rucksack mehr am Rücken trägt und sie sich komplett alleine “weiterschlägt”, niemand ist in ihrer Umgebung.

Warum ist sie hier ohne Rucksack unterwegs und dazu auch noch ganz alleine?

Wirft man hier einen Rucksack einfach weg? Zwar nicht auszuschließen, aber dafür läuft sie mir jetzt zu zielstrebig weiter!

Wo ist dann diejenige Person, welche jetzt den Rucksack von dieser Frau trägt?

Ist es der Ehepartner, dann wäre diese Vorgehensweise ein Scheidungsgrund ersten Ranges, den anderen hier einfach sich selbst zu überlassen.

Ist es der Guide oder der "Lumpensammler" einer Gruppe, dann wäre es eigentlich grob verantwortungslos den Kunden in solch einer Situation sich selbst zu überlassen.

V.a. bei dieser Frau müssen ich und Ram prasad jetzt aufpassen, dass sie uns auch immer zumindest bis zur vermuteten Steinhütte am Pass in “Sichtweite” nachläuft. Ansonsten geht sie hier, ohne dass es jemand merken wird, verloren und erfriert alleine gelassen unweigerlich. Wir sind hier wahrscheinlich nicht auf dem “normalen” Weg zum Pass unterwegs und ob hier heute überhaupt noch hinter uns jemand unterwegs ist und dieser Jemand dann auch noch gerade diesen Weg ablaufen wird, wissen wir auch nicht.

In weitem Bereich hinter uns ist somit niemand mehr, der uns diese Aufgabe “abnehmen” könnte.

Auf den Weg direkt zu Ihr im knietiefem Schnee, sie sitzt gerade wieder auf einem Stein, mache ich mir Gedanken über die Lösungsansätze, falls sie nicht mehr von selbst aufstehen wird, ihre mentale und körperliche Verfassung dann komplett im Eimer sein wird, wenn bei Ihr alles wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.

Wie bringe ich Sie zusammen mit Ram prasad dann zumindest bis zur vermuteten Passhütte?

Und wo ist diese Passhütte überhaupt?

Bin ich aktuell vor allem wegen meinem langsamen Tempo eigentlich das noch größere Problem und merke es (noch) nicht?

Kaum bin ich bis auf geschätzte fünf Meter an ihrem aktuellen „Sitzplatz“ herangekommen, steht sie wieder auf, blickt kurz zu mir herüber und läuft parallel zu uns in gleicher Richtung wie wir zunächst einige Schritte weiter. Ihr klarer Blick und ihre Körpersprache verraten mir, dass sie sich sehr über sich selbst ärgert, weil sich jemand in der aktuellen Situation dazu genötigt sieht, Ihr Weitergehen zu sichern.

Nur ich traue der aktuellen Lage nicht über den Weg.

Ram Prasad ist in der Zwischenzeit auf dem „alternativen Normalweg“ in sicherer Entfernung zurückgeblieben.

Ab jetzt heißt es für uns, immer aufpassen, dass die Frau uns (zunächst ja noch seitlich versetzt) auch folgt und für uns dann rechtzeitig zu bemerken, wenn bei ihr endgültig der “Sprit alle ist”. Mehr als gute 15 Meter Abstand zu Ihr dürfen es jetzt nicht werden, ansonsten heißt es warten, bis sie wieder den Abstand zu uns deutlich verringert. Erst dann geht es wieder weiter.

Falls sie jetzt wirklich nur noch sitzen bleiben wird, dann brauchen wir einen Plan B. Über diesen mache ich mir erst Gedanken, wenn er wirklich notwendig werden würde, in der Hoffnung, dass dieser Fall nie eintreten wird.

Nur wie schaut es eigentlich mit meiner eigenen „Spritversorgung“ aus?

Ich selbst fühle mich bis jetzt bis zur aktuellen Situation im Schneesturm zumindest in der geistigen Entscheidungsfindung noch voll flexibel.

Hoffentlich bilde mir ich diesen Umstand nicht nur ein! Wundern würde es mich nicht.

Die Whiteouts, so bezeichnet man Schneesturmphänomene, wenn man nur noch weiß sieht, und deshalb keine Konturen, geschweige denn Himmel und Erde, sehen kann, nehmen an Häufigkeit zu und haben zeitlich inzwischen sehr deutlich die Oberhand gewonnen.

Ich schlage Ram prasad vor, während einer Whiteout-Pause, sprich wenn ein Whiteout einmal Pause macht, sich einen bestimmten Felsumriss anzuschauen, den ich gesehen habe und der von der Beschreibung zu der Gesteinsformation von Ram prasad passen könnte.

Ich habe absichtlich meinen linken Fuß genau in Richtung der Formation stehen lassen und eine kleine Spur in diese Richtung gezogen, um diesen Weg nach einem Whiteout wieder schnell zu finden.

Eigentlich bei jedem Stopp markiere ich im Schnee die weitere Gehrichtung auf diese Art. Nur einmal den Kopf umgedreht und die Beine verdrehen sich unmerklich mit: man würde anschließend mit einem Versatz von 15-30° ungewollt nicht nur ins vermeintliche sondern unter Umständen ins tatsächliche Nichts weiterlaufen.

Nach einigen Augenblicken kann man den vorgenannten Felsen wieder sehen, sogar etwas besser als zuvor.

Die Wandlung von Ram prasads Pokerface in ein kleinkindliches Freudengesicht (er ist älter als ich) in den nächsten Sekundenbruchteilen ist ein Ereignis, dass man sich lebenslang einprägen kann und wird.

Mir sagt es nur: Volltreffer, der Weg passt!

Jetzt wo die schlimmste Anspannung aus der Situation draußen ist, frage ich Ram prasad:

»Wie lange hättest Du Dein Pokerface noch durchgehalten. Deine Augen haben mir seit geraumer Zeit etwas ganz anderes erzählt?«,

»Nicht mehr lange. Schaut ihr Europäer den anderen Menschen nicht nur ins Gesicht, sondern auch auf die Augen?« antwortet er sichtlich überrascht.

Darauf ich: »Ist eben so, aber wir gehen jetzt zum Fels und dann langsam in Richtung Pass. Wir müssen aber aufpassen, dass wir von den Personen schräg vor und hinter uns niemanden verlieren!«:

Ich gebe den Personen in unserer “Umgebung” dabei mehrmals deutliche Handzeichen, wo der richtige (?) Weg hingeht. Ob sie es alle bemerken, weiß ich nicht.

Die Frau von zuvor folgt uns sauber mit etwas Abstand nach. Auch bei den anderen wenigen Personen ist ersichtlich, dass sie zumindest den Willen haben weiterzukommen, persönliche Hilfestellungen also noch nicht unbedingt notwendig sind.

An die genaue Personenzahl kann ich mich nicht erinnern, aber man vergleicht hier im Unterbewusstsein Bilder des eigenen Erinnerungsmusters. Obwohl man die Personen nicht wissentlich durchzählt, habe ich einige Momente später einmal die “Alarmmeldung”, irgendwas fehlt in meinem Wahrnehmungsbild, nur was? Eine “Schattierung” ist aktuell nicht mehr da, wo man sie eigentlich erwartungsgemäß nach dem letzten “Kontrollscan” jetzt erwarten sollte.

Irgendetwas war zuvor noch pastell-graufarbig und das fehlt jetzt. Pastellfarben sind hier ab 10m nur noch ein Grauschleier. Eigentlich heißt es ja aufgrund des fehlenden Farbsehens bei Nacht “Nachts sind alle Katzen grau”. Nur heute sollte es doch der Uhrzeit nach schon längst helligster Tag sein!

Wo ist die Frau von zuvor denn jetzt auf einmal abgeblieben?

Eigentlich haben ich und Ram prasad immer versucht darauf aufzupassen, dass sie nicht sitzen bleibt und uns nachfolgt. Aber kaum ist man ein paar Augenblicke mit sich selbst beschäftigt, findet man sie nicht mehr.

Mädl mach jetzt keinen Blödsinn!

Kaum einige Sekunden später erspähen wir sie wieder in unsere Richtung laufend, eine kleine Kuppe hatte die Sicht versperrt.

Einmal ganz tief Durchschnaufen.

Die anvisierte Gesteinsformation ist schnell erreicht, sie liegt auf einem kleinen Plateau, es liegt auch fast kein Schnee. Da wir ja noch vor dem Pass sind und wahrscheinlich etwas zu hoch sind, schlage ich vor nach halblinks leicht bergab zu gehen.

So makaber es auch klingen mag, ob wir von hier wirklich bergab oder bergauf laufen müssen, kann wegen des gänzlich fehlenden Horizonts schnell falsch eingeschätzt werden und das lange Arbeiten im körperlichen und mentalen Grenzbereich tun ihr Übriges.

    (Anmerkung des Verfassers: Als erklärendes Beispiel dazu: 2011 war ich selbst auf dem Gipfel des Kilimanjaro in Afrika - beim Aufstieg am Kilimanjaro gibt es am eigentlich einfach zu beherrschenden “Kibo-Sattel” viele Opfer, die im Nebel nicht mehr bemerken, dass sie statt weiter in 12% Steigung bergauf genau in die entgegengestellte Richtung in 12% Gefälle laufen. Einmal linksherum aus dem Pfad heraus und unkonzentriert rechtsherum in die Spur wieder hinein, schon ist es passiert und der Nebel erlaubt dann keine Orientierung mehr.)

Es dauert nicht mehr lange, und der Schnee wird wieder knietief, die Whiteouts sind aber heftiger und häufiger denn je zuvor.

Während ich weiter mit dem “Spur legen und die Nachhut sicher zum Pass bringen” beschäftigt bin, klopft mir Ram prasad ohne Vorwarnung auf die Schulter und zeigt direkt nach vorne.

Da ist er, der Pass!

Oder wenigstens die Teehütte und rechts davon die Gebetsfähnchen und die Passschilder.

Wir haben es geschafft. Kaum 50m liegen sie entfernt! Und dies auch noch genau in Laufrichtung! Ich habe ihn eigentlich noch gar nicht so früh erwartet.

Ich gebe allen hinter mir laufenden Personen eindeutige Zeichen, wo der Pass sich befindet. Ich kann nicht einschätzen, ob diese Personen von ihren Standpunkten aus den Pass schon haben sehen können.

Eigentlich habe ich mich mental schon darauf eingestellt, noch mindestens eine halbe Stunde länger bis zum Pass zu brauchen.

Ankunft am Thorong La

Aber nach ein paar Sekunden ist es wieder vorbei mit der Sicht, zweifelsfrei ist nur noch erkennbar: wo ist oben und wo ist unten.

Jetzt heißt es wieder die Geduld zu bewahren und auf ein Sichtfenster zu warten und dann die nächsten 20-30 Schritte im schweren, gut knietiefem Schnee zu wagen.

Nach zwei weiteren whiteout- und kondtitionsbedingten Zwischenstopps haben wir endlich die Hütte am Pass erreicht. Nur irgendwie habe ich mir den Pass unabhängig vom heutigen Wetter etwas anders vorgestellt.

Man geht zwischen der Passmarkierung und dem Teehaus hindurch, erwartet hätte ich eigentlich, dass der Weg an beiden vorbeiführt.

Vor der Hütte erkenne ich auch mehrere Tragekörbe. Von zwei bin ich mir absolut sicher, dass sie zu uns gehören, und ein weiterer dürfte auch einer der Unsrigen sein. D.h. alle Träger müssten den Pass erreicht haben.

Die Windverhältnisse sind schon extrem hier. Aber warum stehen da noch ein paar Menschen vor der Hütte, ist im Innern kein Platz mehr?

Im Bereich des Passschildes ist niemand.

Ist auch nicht verwunderlich, der Wind pfeift jetzt in Orkanstärke und zwischen Hütte und Passmarkierung dürfte oft mehr als ein Meter Schnee liegen. Kaum sehen wir uns um, ist auch schon Shukra Bir da und begrüßt uns freudestrahlend mit sichtlich allergrößter Erleichterung.

Shukra Bir sagt: »Die anderen sind schon lange im Innern der Hütte, die ist aber inzwischen restlos überfüllt. Kein Chance auf einen Platz!«

»Und der Rest der Meute wartet auf Einlass?« antworte ich und Shukra Bir erwidert: »So in etwa«.

Auf meine Frage an Shukra Bir, wie er in dem Schneechaos so schnell mitbekommen hat, dass Ram prasad und ich gerade am Pass eingetroffen sind, wir haben ihn ja außerhalb der Hütte nicht gesehen, antwortet er lapidar: »Ich habe nur etwas in Knallorange an der Tür vorbeigehen sehen, was nach einem Rucksack ausgeschaut hat. Und Dein Rucksack ist der Einzige in Knallorange, den ich in den letzten Tagen gesehen habe!«.

Man bin ich froh, dass wir alle hier am Pass zusammen sind.

Oft während des Aufstiegs habe ich mich mit dem Gedanken beschäftigt: was passiert, wenn einer aus unserer Mannschaft aus Übereifer am Pass gleich weiter rennt und ich aber noch vor dem Pass umkehren muss. Ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich es mir im Sinne der Unversehrtheit der Gruppe gar nicht leisten darf, den Pass nicht zu erreichen.

Danke, wieder eine Angst weniger!

Während des Gesprächs mit Shukra Bir bemerke ich im Augenwinkel, dass jemand in meiner unmittelbaren Umgebung eine Rettungsdecke auswickelt. Ich drehe mich um und sehe, dass mehrere Personen frontal um eine Frau herum stehen, die im Gesicht so ziemlich jede Farbe des Regenbogens, sei es knalliges rot, intensives blauviolett, kräftiges braungelb, …, hat.

Aber keine einzige dieser Gesichtsfarben schaut irgendwie gesund aus! So viele unterschiedliche und extreme Farbnuancen hat ja in Deutschland fast keine einzige Frau in ihrem Beauty-Case. Die Frau zittert am ganzen Körper nur noch auf das Fürchterlichste. Man könnte fast meinen, sie stünde auf einer Rüttelplatte, die auf maximale Rüttelintensität eingestellt ist. So frieren ja Menschen nicht einmal in Katastrophenfilmen!

Die Farbe der Kleidung dieser Frau ist sehr ähnlich der Person, die ich vor dem Pass überholt habe und wo ich nach dem Erreichen des Passes gesehen habe, dass diese auch nur noch wenige Meter bis zum Passhäuschen hat. Was nicht passt, ist, irgendwie fehlt da jetzt bei dieser Frau mindestens eine Konfektionsgröße und, wenn es sich doch um die identische Frau handelt, so stark verfroren hat sie mir vor dem Pass auch nicht gewirkt. Aber ich kann mich auch täuschen, nur in ähnlicher Kleidungsfarbe habe ich hier aktuell niemand anderes gesehen, es muss also die gleiche Frau sein. Mehrere Personen, es scheinen Nepali zu sein, scharen sich im Halbkreis um die Frau und versuchen sie auch zu stützen.

Aber warum steht denn keiner hinter ihren Rücken?

Der orkanartige Wind bläst genau in ihren Rücken!

Die können doch nicht vorne ihr die Rettungsdecke umlegen und am Rücken der Frau setzt sich ihr Schockgefrieren unvermindert fort!

...

Noch bevor ich mich auf den Weg mache, mich als Windschutz zwischen den Windböen und der Frau zu stellen, mache ich mir leise oder auch laute Gedanken dazu. Ich vermute ich habe es nur gedacht und nicht laut ausgesprochen (im Originalton-Süd hätte es hier sowieso niemand verstanden), was die Vorgehensweise hier soll: »Bringt die Frau schnellstmöglich hier weg, mit dieser dünnen Jacke erfriert die hier sonst! Die ist restlos unterkühlt! Rein in die Hütte, egal wie, oder sofort ab nach unten und wenn ihr sie am Seil runterzieht! Lieber 50 blaue Flecken und ein paar Knochen mehr, als zeitlebens gefriergetrocknet! Wenns ihr es nicht macht, dann werde ich es machen!«

Beim Eigencheck an mir merke ich, dass bei mir soweit alles in Ordnung ist, ich meine es, dass es u.U. so sein könnte. Die Schuhe sind trocken, die Füße angenehm temperiert, eigentlich alles angenehm, nur an den Händen beginne ich auszukühlen. Und ich bin der Einzige mit dickerer Daunenjacke hier.

In welchen mentalen Zustand wäre ich jetzt, bei frierenden Zehen oder kaltem Bauch?

Auch Shukra Bir und Ram prasad sind mir die wenigen Meter gefolgt.

Sicherheitshalber will ich hinten am Rücken der stark unterkühlten Frau als Windschutz und “Wärmepuffer” stehend zumindest den Blick vom Pass aus zurück in Richtung Thorong La High Camp wagen, könnte ja jemand kommen, der Hilfe braucht. Ich sehe niemanden mehr, die Personen von vor unserer Passankunft waren ja bei meinem letzten “Kontrollscan” alle schon in Sichtweite der Hütte, also im Sichthorizont. Und Sichthindernisse bis zum Sichthorizont gibt es auch keine. Wenn sich jetzt keiner von ihnen mit der Schaufel im Schnee eingegraben hat, so müsst man, wenn sie irgendwie im Schnee liegen würden, doch zumindest den Rucksack, die Arschbacken oder andere menschliche Hügelformen von ihnen sehen.

Nichts zu sehen, keine Auffälligkeiten, die nicht in die Szenerie passen würden, also sind alle da! Man bin ich froh!

Aber nach kaum weitere 10 Sekunden später gebe ich das weitere “Abscannen” der Umgebung “zwangsfreiwillig” wieder auf.

Wer schießt hier mit abertausenden kleinen extrem heißen Stahlkugeln bei dem orkanartigen Wind mitten in mein Gesicht?

Mit der Hand muss ich den Klettverschluss meiner Kapuze festhalten, damit der Wind den Klettverschluss nicht noch aufreißt. Da sind doch hier gefühlte -50°C oder noch niedriger! Da muss doch die oberste Hautschicht im Gesicht schon weggefroren sein, mein Gesicht brennt binnen weniger Sekunden auf das Fürchterlichste!

Ist das in der Luft heute noch Schnee oder schon flüssiger Stickstoff im Sturm?

Solche gefühlten kalten Temperaturen wie gerade aktuell habe ich bis jetzt noch nicht einmal im Ansatz in meinem Leben erlebt. Da waren ja meine kältesten -21°C ja noch tropische Hitze. Scheiß Wind!

Wenn ich mich jetzt wieder aus dem Wind drehe: haben die Anderen die stark frierende Frau schon zumindest in die Hütte gebracht, oder muss ich mich dann um eine gesundheitserhaltende Lösung der Situation kümmern?

In meinem Rucksack wären dazu als zusätzliche Isolationsschichten für sie noch eine Daunenhose zum Drüberziehen und die dann von mir abzugebende Daunenjacke könnte ich mit meiner Hardshell tauschen, müsste mir dann aber selbst eine zweite “Langarmlage” unterhalb der Hardshell anziehen.

Kaum wende ich den Wind wieder den Rücken zu, wird es wieder erträglich und auch mein Gesicht scheint sich wieder zu erholen.

Auch sehe ich, dass die Nepali von zuvor versuchen, die extrem stark unterkühlte Frau in das Innere der Hütte zu bringen bzw. dass sie sich fast nicht mehr außerhalb der Hütte befindet. Ihre Versorgung dürfte gesichert sein.

Es wirkt fast so, als würde man sie auf einem Sackkarren stehend rückwärts in die Hütte bugsieren.

Wünschen wir ihr das Beste.

»Sag mal Shukra Bir, stehen da noch Leute hinter der Hütte, da müsste doch kaum Wind sein?« frage ich und erhalte als Antwort von ihm, »Da ist nur eine riesige Schneeverwehung, da kann keiner hin!«.

»Shukra Bir, hinter der Hütte sind normal Turbulenzen, deshalb die Schneeverwehung. Zwei Meter weiter hinten sollte kaum Wind sein, kann auch ein Meter mehr oder weniger sein. Da können wir uns hinstellen!«.

Shukra Bir schaut mich absolut ungläubig an, geht aber trotzdem hinter die Hütte. Kaum angekommen winkt er uns umgehend herbei. Und tatsächlich ist an der Stelle sehr deutlich weniger Wind. Ich habe mich zwar während meines Studiums für die Strömungsmechanik kaum begeistern können, aber anscheinend lernt man im Studium auch mal was fürs (Über-)Leben.

Auf meine Frage an Ram prasad, ob denn Zustände wie aktuell öfters vorkommen, erhalte ich als Antwort, dass es schon heftig sei, sie (sprich Ram prasad & Co) aber solche Zustände schon mitgemacht haben, aber noch nie hier am Thorong La.

Auch wenn die aktuellen Witterungszustände nicht unbedingt der Lebensdauer von Elektronikbauteilen freundlich gesinnt sind, beschließe ich, dass Shukra Bir ein Bild von mir am Passschild machen soll, als Beweisfoto, welche Zustände hier herrschen. Das glaubt mir sonst keiner danach und es müssen ja nicht immer diese Schönwetterfotos bei den Reiseveranstaltern sein. Für diesen Zweck ist es mir egal, ob meine Fotokamera dieses Ansinnen übersteht, auch wenn deren Neuwert über dem Preis dieser Reise liegt!

Da Shukra Bir schon mehrmals Fotos mit meiner Kamera gemacht hat und auch ein sehr gutes Auge für das Motiv hat, übernimmt er gerne die Aufgabe als Fotograf. Ram prasad macht mit seiner Statur für Shukra Bir noch einen Behelfsschneeschutz, denn Wind und Schnee haben wir hier auch.

Nur wo soll ich mich jetzt hier hinstellen?

Für die 30 Meter Weg zum eigentlichen braunen Hinweisschild bräuchte ich wegen der Schneemassen dorthin eine Tunnelbohrmaschine, dieser Weg scheidet also aus. Niemand hat es seit meiner Ankunft gewagt in die Nähe der Passmarkierung und Gebetsfahnen zu gehen, keine Spur, einfach nix im Schnee zu sehen. Auch wäre es verantwortungslos gegenüber dem Fotografen, dass dieser sich wegen eines Fotos ungeschützt und mitten in das Windinferno stellen müsste.

Ich beschließe, mich zum zweiten und kleinen weißen Schild vorzutasten.

Vorzutasten?

Wenn mal wieder, wie aktuell jede Minute hier, ein neuer Whiteout seine Vorstellungsrunde tätigt, sehen wir von hier nicht einmal die gegenüberliegende eigentlich unübersehbare Passmarkierung. Aber wer nichts wagt! Nach gut 5m wird der Schnee jetzt mehr als knietief, viele würden hier hüfthoch sagen, aber hüfthoch beginnt ja oftmals schon unmittelbar oberhalb des Knies. Obwohl ich mehr als einen halben Meter tief im Schnee stehe, wird es zum Balanceakt, die notwendige 180° Drehung zu machen, damit ich mit dem Gesicht wieder in Richtung Kamera schaue. Penetrant versucht es der Orkan, mich bei diesem Ansinnen umzuwerfen, aber nachdem auch mein rechter Fuß wieder sein Schneeiglu hat, kann ich dem Wind doch standhalten. Aus Gründen des Gleichgewichts muss ich aber die Hände außerhalb der Jackentasche lassen, auch wenn die Hände inzwischen doch schon stark auskühlen. Für zwei bis drei Sekunden sehe ich meine Kamera und Shubra Bir, dann ist wieder ein Whiteout und ich kann mich nur noch auf meine Erinnerung berufen, wo die Kamera denn aktuell sein müsste. Shukra Bir erzählt mir später, dass bei der Kamera sehr oft der Auslöser blockiert hatte, da der Autofokus nicht scharfstellen konnte (und ich vorher vergessen hatte, ihm zu sagen, wie man bei der Kamera auf manuellen Fokus umstellt).

Was bei diesen Bedingungen der Unterschied zwischen der windzu- und der windabgewandten Seite sein kann, kann ich in den nächsten gut 43 Sekunden erleben (Zeitunterschied zwischen ersten und letzten Foto laut Speicherdatum Kamera).

Ich sage dazu nur eines:

Einmal im Leben reicht!

Die rechte Hand ist die windabgewandte Seite. Hier bemerke ich, dass an den Fingerkuppen es langsam etwas kalt wird. Ist ja nicht weiter verwunderlich, meine Handschuhe sind ja eigentlich gut, aber für solche Bedingungen nicht gedacht („… Wer rechnet denn schon damit, dass …“).

Nur was in der gleichen Zeit an meiner linken Hand abgeht, habe ich mir bis jetzt noch so gar nicht vorstellen können!

Ein Gefühl als hätte jemand in alle meine Fingerspitzen der linken Hand gleichzeitig „Flüssigeis“ mit einer Spritze injiziert und ich „darf“ nun miterleben, wie sich die gefrorene Flüssigkeit von Sekunde zu Sekunde von den Fingerspitzen bis zur Handfläche über alle 3 Fingerglieder ausbreitet. An jedem Fingergelenk beim Passieren von Selbigem dann ein deftiger Zusatzschmerz, als wäre eine Engstelle und jetzt wird das „Eis“ einfach durchgedrückt, ohne Rücksicht auf Verluste. Obwohl ich zeitig beginne, meine Finger schnell zu bewegen, meinem „Flüssigeis“ interessiert dies nicht die Bohne. Interessanterweise habe ich nicht das Gefühl, die Bewegung der Finger wäre eingeschränkt, also kein Taubheitsgefühl. Die linke Hand in die untere linke Jackentasche zu stecken funktioniert nicht. Nicht weil ich zu unbeholfen dazu wäre, nein, der linke Arm wird wegen der Sturmböen dringend für Ausbalancierungszwecke benötigt.

thorong_la_schnee

Schönwetterphase (kein Witz !!!) am Thorong La - 14.10.2014 9:23 Uhr (auf das Bild klicken oder diesen Link folgen, um das Bild in Originalgröße 7360*4912 Pixel anschauen)

thorong_la_wind

Schneefahnen bei 1/250s Belichtungszeit

thorong_la_schnee_snow

Schönwetterphase (kein Witz !!!) am Thorong La - 14.10.2014: Schnee, Sturm, Kälte und ein Gesicht, welches Bände spricht: In voller Konzentration nach dem nächsten Whiteout die eigentlich nur 10m entfernte Hütte am Thorong La Pass wieder zu finden.

schneespur

Auch wenn diese Aufnahme am Thorong La Pass beim Gang vom Teehaus zum Passschild erfolgte, es zeigt exemplarisch auch die Spur- und Schneeverhältnisse auf der Manangseite rund um den Thorong La (und dies alles über viele hunderte von Metern auf 5400m ü.NN!)

thorong_la_pass

schneespur560

Gesamtbild aus oben und Helligkeitsvorschlag von Photoshop Elements - der “dunkle” Grauton aus den ersten Bildern gibt eher die tatsächlichen Lichtverhältnisse wieder

thorong-la-pass

Anmerkung des Verfassers: Aussicht vom Thorong La Pass nach Westen (Muktinath) an einem normalen Tag. Die hohe Felswand rechts war am 14.10.2014 noch nicht einmal im Ansatz zu sehen, wenige Meter nach den Gebetsfahnen war “Ende der Fahnenstange” (siehe Schneesturmbild weiter oben). Das Schneesturmbild weiter oben ist im “Normaltagfoto” in grober Richtung von links nach rechts fotografiert.

Bleiben oder weitergehen?

So schnell wie möglich bin ich wieder hinter der Hütte im windreduzierten Bereich verschwunden. Jetzt kann ich die linke Hand in die Jackentasche stecken und kann dort auch noch schnelle Fingerbewegungen machen. Langsam merke ich auch, wie das „Flüssigeis“ wieder in Richtung Fingerspitzen zurückwandert.

Vor dem Verstauen der Kamera im Rucksack versuche ich die Feinmotorik meiner Fingerspitzen zu testen. Tasten der Kamera drücken, einige Stellräder betätigen, alles funktioniert tadellos. Ich erspare mir jetzt also, dass ich den Handschuh ausziehe, auch wenn von der gefühlten Temperatur zwischen linker und rechter Hand noch deutliche Unterschiede da sind.

Eine gewisse “Unheimlichkeit” in der aktuellen Situation erzeugt der Umstand, dass durch die extremen Wetterbedingungen hier am Pass es den Anschein hat, dass Personen und/oder Gruppen, die den Pass in Richtung Muktinath verlassen, wie in einer weißen und einer zugleich undurchsichtigen Wolke verschwinden. Es wirkt fast, als würde Captain Kirk im Raumschiff Enterprise sagen: “Scotty beamen”. Zwei oder drei Schritte weiter und weg sind sie, irgendwie binnen Sekunden wie im “Nichts” aufgelöst.

Wir stehen keine 10m von ihnen entfernt, wenn die Leute den Abstieg nach Muktinath beginnen, und sehen sie bereits jetzt nicht mehr!

In welche Richtung nach dem Pass gehen die Personen nun eigentlich?

Gibt es da auch eine falsche Richtung?

Shukra Bir schlägt vor, dass wir noch eine Zeit lang hier am Pass warten sollten, dann aber im Innern der Hütte. Ich bin einverstanden, gebe aber zu bedenken, dass wir unbedingt noch im Hellen in Muktinath ankommen sollten, egal wie die Bedingungen sein werden. Rechnen wir mal den worst case, dann dauert es keine 3-4 Stunden sondern 7-8 Stunden. Und die Zelte müssen ja auch noch aufgebaut werden. Ram prasad sagt aber sofort, dass Zelt aufbauen in Muktinath ungeschickt wäre, wir haben sie im nassen Zustand verpackt, trocknen ist heute unmöglich, es wäre besser, dass ich ein Zimmer nehmen würde. Wir einigen uns darauf bzw. ich gebe unmissverständlich zu verstehen, dass wir uns bis maximal 10:30 Uhr (jetzt ist es noch vor 10 Uhr) in der Hütte aufhalten. Sind wir nach 10:30 Uhr noch am Pass, dann bleiben wir hier oben am Pass bis mindestens Morgen früh!

Ich mache mir schon erste Gedanken, wo wir hier am Pass am Vernünftigsten unsere Zelte aufstellen könnten, falls es mit der “Abreise” bis 10:30 Uhr nichts mehr wird.

Wir sind zwar immer noch die Einzigen hinter der Hütte, aber vor der Hütte hat sich der Andrang deutlich reduziert. Genau genommen befindet sich außer uns niemand mehr wirklich außerhalb der Hütte. Kaum an der Eingangstür der Hütte angekommen, erkennt Shukra Bir sofort, dass es in nächster Zeit keinen Platz in der Hütte geben wird.

Er teilt mir mit, dass er die Träger holt und wir dann aufbrechen sollten, alle zusammen!

Unsere 3 Träger kommen auch ziemlich schnell aus der Hütte, sie machen einen entspannten Eindruck und haben noch immer ihre schelmischen Lausbubengesichter der letzten Tage. Um die Situation noch weiter zu entspannen, gibt es von mir nochmals einen süddeutschen „Socherer“ translated in Englisch:

»Vor ner Stunde standen wir noch am Abgrund, jetzt sind wir aber schon einen Schritt weiter« und alle lachen.

Hoffentlich wird dieser Spruch nicht zur Realität!

Geschweige denn, wie nahe sind wir dieser Realität schon?

Was mir hier am Pass und die ganze Zeit zuvor schon auffällt: Niemand, wir in unserer Mannschaft einmal ausgenommen, redet mit den Anderen. Irgendwie sind alle schweigend nur mit sich selbst im tiefsten Gespräch vertieft.

Es scheint, als wären irgendwie alle in ihrem eigenen Tunnel gefangen.

Nachdem wir unsere Vollzähligkeit überprüft haben, können wir starten. Es kann ja nur noch leichter und einfacher werden, es geht ja nur noch nach unten und der Wind kommt von hinten.

Ein richtig heftiger Irrglaube, wie die nächsten Stunden zeigen werden. Aber von dieser Geschichte können wir hier oben am Pass noch nichts wissen.

In den letzten Stunden hatten wir absolut null Geländesicht. Ich habe eigentlich keine Ahnung, wie die Umgebung hier eigentlich ausschaut und ob. z.B. bei unserem Aufstieg manchmal doch ziemliche Umwege dabei waren, was ich doch sehr stark vermute.

Es ist für mich seither auch nicht einschätzbar, ob von der umgebenden Bergwelt zusätzliche Gefahren drohen. Man sieht keine Bergwelt, ohne Whiteout ist es auch nur Nebel mit maximal 30-50m Sicht. Folglich hat man keine Chance eine Bergkuppe oder irgendetwas Anderes vom Horizont zu unterscheiden, geschweige denn:

Was oder wo ist hier überhaupt der Horizont?

Gibt es einen Horizont überhaupt noch?

Ein nicht mehr vorhandener Horizont, weißer als Weiß oder wenn der hellste Tag zur Nacht werden kann!

Shukra Bir übernimmt die Führung, gefolgt von mir, Ram prasad und den drei Trägern. Unmittelbar nach dem Pass biegt Shukra Bir scharf rechts ab, ich denke mir nur, er wird schon wissen was er macht. Wir laufen noch einige Meter, der Schnee wird immer tiefer, für meine Rais jetzt wirklich schon hüfthoch. Und die Sicht ist auf einem Schlag, obwohl hier fast kein Wind herrscht,

absolut,

restlos,

komplett,

weg.

Sind wir jetzt hier im falschen Film?

Heinrich, mach jetzt bloß keinen Blödsinn!!!

Keine zwei oder drei Minuten unterwegs und wir wissen nicht mehr

wo wir sind,

wo wir hergekommen sind,

wie es zurück geht

oder wie wir weitergehen sollen!

    (Anmerkung des Verfassers: Erst Monate später erkenne ich in einem Internetbild, bei dem der Thorong La Pass bei schönen Wetter aus einem gänzlich anderen Blickwinkel als sonst üblich abgelichtet wurde, was zu diesem Wetterphänomen an dieser Stelle geführt hat.)

Shukra Birs in den letzten Minuten gezeigter fast schon Übereifer hat auch einen sehr deftigen Dämpfer erfahren.

Wie machen wir jetzt weiter?

Panik schieben bringt nix und eine Panik schließe ich für mich einmal grundsätzlich aus, egal was passiert. Panik bei mir darf unmöglich sein und eine Panik wird es nicht geben! Panik, Du kannst mir mal restlos den Buckel runterrutschen!

Wie schaut es bei den Anderen aus?

Panikattacken?

Beginnt einer hohl zu drehen?

Geht einer in einen Jammerlappenmodus über?

Jetzt wird mir auch schlagartig bewusst, für was man bei der Tilicho See Variante 200m Seil am Mesokanto La braucht.

Ein Königreich für ein 200m langes Seil!

Aber es hilft das beste Königreich nichts, wenn kein Seil da ist!

Wie stelle ich es jetzt an, alle aus meiner Mannschaft körperlich unversehrt nach Muktinath zu bringen?

Es kann doch nicht angehen, dass, nur weil sich Meinereiner einbildet, am heutigen Tag über den Pass zu gehen, irgendjemand einen körperlichen Schaden nehmen muss!

Und wie reduzieren wir jetzt die Gefahr, uns im schneeweißen Chaos hier zu verlieren?

Ohne Seil, mit Seil wären wir in 30m Abstand verbunden und blieben immer zusammen!

Mit Handzeichen, Gestik und augenblicklich autodidaktisch erlernter Zeichensprache (Dialekt unbekannt) schlage ich ein Ziehharmonika-Prinzip vor.

Irgendwo hatte ich bei der Reisevorbereitung gelesen, dass es Markierungsstangen am Abstieg gibt, da müssen wir uns dann von Stange zu Stange durchhangeln. Wenn wir die erste Stange finden, dann sollte das Grausamste überstanden sein.

Alle nicken, haben sie aber auch kapiert, was ich damit meine?

Nicken sie, weil ich Ihr aktueller Boss bin. Nicken sie, weil man bei Kunden immer nickt, oder nicken sie, weil sie mein Vorhaben verstanden haben?

Ich hab es doch nur einmal in Zeichensprache erklärt und alle haben es sofort verstanden.

Typisch Nepal, eigentlich Unmögliches klappt oft sofort (und einfach Mögliches manchmal in 1000 Jahren nicht).

Wie lässt sich nun die Vorgehensweise erklären?

Wir sind zusammen sechs Personen, wir sind zunächst alle an einem uns allen bekannten Ort, auch wenn wir dessen Lage im „Raum“ aktuell nicht beurteilen können. Nun geht die erste Person, bei uns macht dies Shukra Bir, in die Richtung, wo er den nächsten Orientierungspunkt vermutet. Hat er nach maximal 20 Meter (oder einer kürzeren Sichtweite bei noch schlechteren Bedingungen) noch nichts gefunden, dann geht die zweite Person, meist ich, zum Standpunkt der ersten Person. Dann startet die erste Person wieder die nächsten 20 Erkundungsmeter. Hat die 1. Person auch dann nichts gefunden, geht die 3. Person zum Platz der 2.Person und die 2.Person zum Platz der 1.Person.

Das Spielchen geht so lange weiter, bis entweder der nächste Punkt gefunden ist , oder sich die letzte Person vom allseits bekannten Punkt entfernen müsste. Eventuell markiert die letzte Person den letzten Platz eindeutig, dann kann sich das Prozedere noch um eine weitere Abstandslänge vergrößern. Ist der letzte bekannte Punkt ein markanter Punkt (z.B. vielleicht eine heute später noch zu findende Markierungsstange), kann sich die letzte Person noch soweit von diesem Punkt entfernen, dass sie zu 100% (!!!) diesen Punkt wiederfindet.

Ist der nächste Wegpunkt gefunden, dann rücken alle strukturiert von hinten nach vorne nach und man geht zum nächsten Wegpunkt von neuem. Es startet dann die Logik wieder von vorne.

Wird der nächste Wegpunkt trotz voll ausgebreiteter “Ziehharmonika” noch nicht gefunden, dann geht es entweder zurück zum Punkt der letzten Person oder man macht eine Gefahrabwägung zwecks gemeinsamen Verirrens und zieht die Ziehharmonika zunächst etwas zusammen und anschließend wieder auseinander.

Die Sache verläuft natürlich dynamisch und nicht statisch, d.h. es liegt in der Eigenverantwortung des Einzelnen gegenüber dem Rest der Gruppe, wann er gedenkt seine Position zu verlassen mit der Gewissheit, dass ein „Blöd gelaufen“ im Fehlerfall von allen anderen nicht akzeptiert werden wird.

Sofern vorhanden, muss jede Person von seinem Vordermann und Nachfolger die Position wissen! Wir wissen nicht, wie lange der Whiteout anhalten wird. Seit wir hier stehen ist er zu 100%. Gehen wir davon aus, dass es besser werden wird, je weiter wir nach unten kommen.

    (Anmerkung des Verfassers: In vereinfachter Form hatte ich dieses “Verfahren” bereits zwei Jahre zuvor bei einer Forstweg- bzw. Pfadwanderung in den venezolanischen Anden bei aufkommenden Nebel und beginnender Dämmerung und überschwemmten Wegen angewandt. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, mich hier am Thorong La an diese Sache bewusst erinnert zu haben. Nachzulesen ist die Begebenheit unter http://www.hbernreuther .de/Venezuela/Anden/anden.html, dort in der unteren Seitenhälfte)

Ich gebe meinen Männern unmissverständlich zu verstehen, im Whiteout sofort stehen zu bleiben und für die Dauer des Whiteouts still zu verharren und auf keinen Fall den Kopf zu drehen, wenn nicht die Füße die Richtung des Vordermanns im Schnee zusätzlich eindeutig markieren. Andernfalls kann die Zeit beim nächsten Whiteout nicht ausreichen, die Position des Vordermannes in der kurzen verbleibenden Intermezzo-Zeit wieder zu finden. Wenn einer von uns 10m von der Linie der Anderen abweicht, kann es sein, dass die Nachfolgenden an ihm vorbeigehen ohne ihn zu sehen!

Hoffentlich bekommen wir gegenseitig mit, wenn einer von uns mental abdreht. Aber wie gehen wir dann mit dieser Situation um? Aktuell wirken alle konzentriert und dass Jeder Jeden beobachtet.

Auf ins Gefecht, ich wusste bis jetzt nicht, dass ein Abgrund aus einer weißen Wand bestehen kann.

Shukra Bir macht die Speerspitze. Nach einigen Metern wird die weiße Wand doch etwas löchrig, ich erkenne, dass er am Hang bleibt und nicht nach links den Hang absteigt.

Wo bleibt die erste Markierungsstange?

Unsere Ziehharmonika ist fast schon ausgereizt und teilweise wird der Schnee bei mir über manche Meter auch hüfthoch. Ich versuche den Schnee so platt zu drücken, dass die Nachfolgenden dort keine Tunnel bohren müssen. Dabei bleibt mir manchmal fast nichts Anderes übrig, mich nach vorne in den tiefen Schnee fallen zu lassen, mich wieder auf die Füsse zu stellen und das ganze so oft zu wiederholen, bis die “Tiefstelle” überwunden ist.

Man ist in solchen Situationen zu 100% all die Zeit angespannt und versucht mit allen Aufnehmereinheiten so viele Umgebungsinformationen wie möglich zu sammeln, wenn schon die Sehsinne nur sehr bedingt bzw. eigentlich überhaupt nicht einsetzbar sind.

Wenn Shukra Bir die erste Stange gefunden hat, dann haben wir gewonnen. Aktuell sehen wir sie noch nicht, aber in einem kurzen Augenblick, wo der Whiteout etwas stärker nachlässt, lässt sich von meinem aktuellen Standpunkt ein senkrechter Grauschleier, etwa 2m hoch, schräg voraus erkennen, der dürfte noch mehr als 50m weg sein (Anmerkung des Verfassers: Eine Entfernung in solch einer Situation zu schätzen ist ungenauer wie die Zahl vorauszuahnen bei „Sag mal eine Zahl zwischen 10 und 500”).

Da wir Rückenwind haben, kann ich den 10-15m vor mir laufenden Shukra Bir laut nachschreien und den sich erschrockenen zu mir umdrehenden Shukra Bir durch eine eindeutige Handbewegung der linken Hand die Position der vermeintlichen Stange zeigen.

Wie ein Irrer rennt Shukra Bir zur vermuteten Stange und hebt die Hand. Ich gebe mit eindeutigen Hand- bzw. Armzeichen, d.h. beide Arme zum “Y” für “Yes” heben und dann mit dem jeweiligen Arm die Richtung anzeigen, den “Treffer” weiter. So hoffe ich wenigstens, meinen Hintermännern verstehen zu geben, dass wir einen Treffer haben, wo dieser ist und über welchen Weg wir dorthin gelangen sollen. Der kürzeste Weg kann auch der mit dem meisten Schnee sein, und an manch kleinem Kamm liegt manchmal wegen der Verwehungen null Schnee. So wird aus einer Gerade schnell einmal ein U.

Ich sage zu Ram prasad, der gerade neben mir steht: »The worst thing is done«, er nickt wohlwollend.

Genau nach dem gleichen Prinzip folgen die nächsten Markierungspunkte.

Man kann sich einbilden, dass sich die Sicht um eine Idee bessert. Aber wahrscheinlich sind nur die Whiteouts weniger heftig, der Nebel bleibt der Gleiche. Von einer Stange sieht man heute hier oben auf noch über 5300m ü.NN nie die nächste Stange.

Aufgrund meiner Handzeichen komme ich mir fast als „Flaggenmann“ vor, aber ich denke, so kann ich den Hintermännern die Ungewissheit in der Situation etwas nehmen.

Als Shukra Bir gut 10 Höhenmeter unter mir einen gangbaren Weg zur nächsten jetzt schon sichtbaren Markierung auskundschaftet, sehe ich am Abhang ganz oben stehend, dass links von mir ein Schatten auftaucht. Ist es einer aus unserer Mannschaft, der einfach einmal die „Ziehharmonika“ klein macht? Schnell fällt mir aber auf, dass dieser vermeintliche einheimische Träger gar nicht zu uns gehört.

Wo kommt der jetzt her?

Haben sich da bereits Personen hinten uns angeschlossen?

Wir waren doch die letzten außerhalb der Hütte, die vom Pass aus weitergegangen sind. Wo kommen die her?

Der fremde Träger will seinen Weg über den verschneiten sicherlich 45° steilen Abhang abkürzen und direkt in Richtung Shukra Bir laufen. Wenn er jetzt sein Vorhaben umsetzt, dann tritt er, so denke ich gerade, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Schneebrett los. Dann können wir anschließend den 20 Höhenmeter weiter unten stehenden Shukra Bir aus einem zwei Meter tiefen und betonfesten Schneeknäuel ausgraben. Und dazu habe ich jetzt überhaupt keinen Bock.

Mit meiner seitlich ausgestreckten linken Hand halte ich ihn an seinem vorderen Jackenkragen fest und gebe ihn unmissverständlich zu verstehen: Ey, so nicht, lass die Dummheit! Sichtlich überrascht und zutiefst erschrocken zuckt er fast schon ängstlich zusammen. Fast so, als würde ihn jetzt ein Gespenst festhalten. Mit meiner rechten Hand zeige ich ihn anschließend den richtigen Weg am Hang entlang. Wie ein begossener Pudel zieht er auf den „richtigen“ Weg von dannen.

Wenn ich ihn erst eine Sekunde später bemerkt hätte, ich will mir die Folgen dazu gar nicht ausmalen!

Nur was haben wir hier wirklich für Windgeschwindigkeiten?

Es gibt ja nichts außer den Stangen zur Orientierung, man hat das Gefühl in einem weit gefassten Tunnel oder in einer Wolke mit Innensicht aber null Blick nach außen hin zu sein.

Wie aus dem Nichts taucht links in Sinne unserer Laufrichtung talwärts gelegen etwas auf, was ich als einen roter Regenüberzug eines Tagesrucksacks identifiziere. Wie von einer Tarantel gestochen schießt der Überzug an uns vorbei und verschwindet nach wenigen Sekunden wieder aus unserem Sichtfeld. Da sind ja Sturmböen bei uns in Deutschland bei einem Sommergewitter nur eine Tempo-30-Zone!

Aber warum kommt von da ein solcher Überzug?

Hat da jemand weiter oben seinen Regenschutz verloren?

Ist da oben überhaupt einer?

Kann doch gar nicht sein, die werden doch alle so wie wir am Pass abgebogen sein?

Was geht da jetzt hier vor?

Und nach uns dürfte doch kaum jemand schon vom Pass gestartet sein. Na ja, da wird wohl einer am Pass oben etwas unvorsichtig seinen Rucksack abgesetzt haben und eine Windbö hat dann den Überhang weggeweht.

Beim ununterbrochenen Abscannen der Umgebung und Umgebungspersonen kann ich nichts erkennen, dass wir irgendwie in einem Lawinenbereich wären, aber ich kenne die Umgebung außerhalb unseres „Tunnels“ nicht und den Rest muss ich mir aus dem in den letzten Tagen gelesenen Reiseführer dazu denken.

Kaum ist wieder eine Minute vergangen, kommt jetzt ein blauer Rucksackschutz aus der gleichen Ecke wie zuvor der rote Überhang angeflogen, macht kurz zwei oder drei Bauchlandungen links von uns (linksseitig ist die Gegend etwas tiefer liegend), „steht“ wieder auf und verschwindet ganz schnell wieder talwärts im Nichts.

Dass kann es jetzt doch nicht sein!

Da oben ist doch niemand!

Wie können jetzt zwei solche Dinger unterwegs sein?

Ich habe doch nichts bemerkt, dass auf einem aktuellen Lawinenabgang hindeuten könnte, kein Grollen in der Luft, keine Druckschwankungen im Ohr, keine „Stoßwinde“.

Im letzten Jahr auf der Everestrunde zwischen Gokyo und Machermo, damals auch am 14.Oktober, habe ich ja aus nächster Nähe ein ganzes Dutzend an Lawinen erlebt. Man sieht sie noch nicht, aber man hört sie schon (oder man hört gerade eben nichts mehr) oder hat das Gefühl, irgendetwas stimmt jetzt nicht mehr. Aber nichts von den mir bekannten Anomalitäten kann ich wahrnehmen.

Dehne meine Sinneswahrnehmungen jetzt auch noch zusätzlich auf eventuelle Lawinenabgänge aus!

Was mich seit dem Verlassen der Passhöhe an mir selbst verwundert: irgendwie funktioniere ich wie eine Maschine, die im absoluten Überlastmodus läuft, ohne dass der Kreislauf SOS funkt.

Im körperlichen Anstrengungsprofil der letzten Minuten v.a. wegen der vielen Schneequerungen wäre man doch schon auf 3000m ü.NN nach ganz kurzer Zeit “liegend” K.o. (zum “stehend” K.o. hätte man dort oben schon gar keine Luft mehr) . Aber hier bin ich nicht mal richtig außer Atem, so gaukelt es einem wenigstens der eigene Verstand vor. Ich merke aber bei klarem Verstand, dass bei jedem Atemzug meinerseits der Bauchnabel trotz Ansatz eines Brauereigewölbes fast immer an den Rückenwirbeln anstößt, so tief sind die Atemzüge. Es ist fast so, als ob eine Gehirnhälfte zur anderen sagen würde, “Kümmer Du Dich um das Körperliche, ich mache das Mentale” und dann die andere Gehirnhälfte antworten würde: “Ich rühre mich schon, wenn es wirkliche Probleme gibt”.

Wie lange kann ich diesen Alarmzustand noch unbeschadet durchstehen?

Wann gibt es den kompletten Zusammenbruch?

Nein, diesen kompletten Zusammenbruch erlaube ich mir nicht!

Abwechslung und Lichtblicke

Als ich im weiteren Verlauf nicht allzu weit entfernt von einer Markierungsstange die Umgebung auf den Umständen entsprechenden Auffälligkeiten beobachtend warte, weil Shukra Bir den besten Weg zur nächsten vermuteten Markierungsstange sucht, sehe ich neben unserer Strecke leicht links hinter uns mehrere Schatten, die aus dem Nebel langsam heraustreten.

Kaum sehe ich mich genauer um, werde ich fast wie aus dem Nichts von einer Frau im Vordergrund mit einem Lächeln im Gesicht unbekümmert von den äußeren Umständen auf Englisch angesprochen:

»Hi!«.

Auf mein darauf geantwortendes »Hi!« spricht sie weiter:

»Ich habe Dich schon beim Weg zum Pass gesehen, Du warst der Einzige, der beim Weg zum Pass immer aus der Spur rechtzeitig getreten ist und der sich Zeit gelassen hat.«

Im frustiert melancholischen Unterton sagt sie weiter: »Wir sind den Berg nur raufgerannt.«

Ich frage Sie: »Wie lange seid Ihr schon seit dem Pass unterwegs? Irgendwie habe ich das Gefühl, Ihr seid immer noch auf der verzweifelten Suche nach der längsten Abkürzung?«

Ich erhalte als Antwort: »Kann ich jetzt gar nicht genau sagen, aber seit einer Ewigkeit suchen wir einen Weg und kommen nicht weiter. Bei Euch schaut es aus, als ob Ihr den Weg wissen würdet.«

Ich antworte Ihr: »Wissen tun wir ihn nicht, aber bis jetzt haben wir ihn immer auf Anhieb gefunden.« … »No worries, Ich denke, wir werden auch weiter einen Weg finden, der passt.« … »Lauft uns einfach hinten nach, dann kriegen wir das schon irgendwie hin!«

Am Rande eines abfallenden Hanges, beide im mehr als knietiefen Schnee stehend, erkläre ich ihr auf Englisch: »Siehst Du dort hinten den schmalen senkrechten 2 Meter hohen schwachen gräulichen Schatten in der Verlängerung gut zwei Handbreit links neben der Person da weiter unten?« (Anmerkung: Die “Person da weiter unten” ist Shukra Bir.) … »Dies dürfte die nächste Markierungsstange sein! Da geht der richtige Weg hin!« … »Hier gibt es sonst nichts, was auf 2m gerade ist. Es kann dort also nur eine Markierungsstange sein.« … »Schau, jetzt sieht man die Stange besser als einige Momente vorher.« ... »Es bringt einem jetzt aber nichts direkt den Hang hinab darauf zuzulaufen, denn dann könnte man eine Lawine lostreten.« … »Meist ist es besser am Hang entlang und dann eine Kurve zu laufen.« … »Du siehst da auch Stellen, wo kein Schnee liegt. Ich habe festgestellt, dass heute meist 1 Meter neben der linksseitigen Hangkante am wenigsten Schnee liegt. Am rechtsseitigen Hang kannst Du an der Kante laufen, da ist meist kein Schnee.«

Ihrer Mimik und ihren Kopf- und Augenbewegungen nach zu urteilen, die den Weg beschreiben, den auch ich zur nächsten Markierungsstange gehen würde, scheint sie meine Worte verstanden zu haben.

Wenn ich mir ihre Kleidung betrachte, ist auch zu erkennen, dass da jemand genau weiß, mit welch niedrigen Temperaturen um den Pass herum üblicherweise gerechnet werden muss.

Auch wenn ich jetzt noch weiter mit einer sehr sympathischen Erscheinung im Gespräch vertieft bin, die Konzentration auf meine Mannschaft und die uneinsehbare Umgebung sollte ich nicht zu sehr vernachlässigen, auch wenn die Frau auf mich einen ruhigen, gefassten, hoch konzentrierten, sympathischen, absolut unverfrorenen und einen die aktuelle Schneesturmsituation im Griff habenden Eindruck macht.

Eine rühmliche Ausnahme, wie die nächsten Stunden zeigen werden.

Dass da heute bei sehr sehr vielen anderen Trekker(innen) Herz und Hirn nicht mehr unbedingt am eigentlich dafür vorgesehen rechten Fleck sein werden, von diesen Begebenheiten ist mir aktuell noch nichts bekannt. Nicht selten wird dann bei ihnen das Herz in die Hose gerutscht und das Hirn, zumindest aber Teile davon, im Arsch sein.

Als ich letztendlich weitergehe, mit einem für sie wahrscheinlich unverständlichen fränkischen “Mach was Gscheids – Pfiat Di” als Wegwort, was so viel wie “Viel Glück bei den anstehenden Entscheidungen” bedeutet, schließe ich zu Ram prasad wieder auf. Er hat sich als wartender Verbindungsmann zwischen mir und unserer Gruppe geopfert. Im Schulterblick nach hinten sehe ich, dass uns jetzt doch einige Personen folgen bzw. folgen wollen.

Soll ich jetzt Shukra Bir im Tempo etwas einbremsen?

Ich weiß nicht, ob unsere „Neuankömmlinge“ unser Tempo mithalten können. Die wirken außer der zuvor beschriebenen Frau irgendwie doch etwas desorientiert. Ich denke bzw. hoffe aber, meine Gesprächspartnerin von gerade dürfte das schon managen können. Leute freut Euch auf die zweite Luft!

Wenige Markierungsstangen später ist talwärts vor uns eine Polonaise an Menschen im Nebel erkennbar, die Menschenpolonaise scheint einer Spur zu folgen, wir haben die talgehende Spur erreicht. Da können wir uns dann hinten anhängen und der Weg ins Tal ist nur noch eine Frage der Zeit.

Es dauert nicht lange und wir schließen auf diese Gruppe auf und ich sehe, dass vor dieser gut 10 Personen umfassenden Gruppe noch eine weitere längere Schlange sich gen Tal fortbewegt.

Nur meine Auffassung, dass der Rest der Strecke nun eine “gemähte Wiese” sein wird, hätte ich mir getrost sparen können. Die folgenden Stunden werden mir zur Genüge nur allzu oft das Gegenteil beweisen. Und eine “gemähte Wiese” bedeutet ja nur, dass die Probleme alle offen liegen, die Hauptarbeit aber noch getan werden muss.

In der Spur oder wenn der gemeine Dreisatz nicht wäre

Endlich einmal etwas langsamer unterwegs, aber der Blick auf meinem Höhenmesser verrät mir, dass wir immer noch irgendwo auf 5200m sind!

Im Schulterblick zurück erkenne ich, dass auch unsere „Zweitgruppe“ noch in Sichtweite, die Sicht liegt kurzzeitig bei bis zu 100m, nur unwesentlich hinter uns ist. Die dürften dann auch erkennen, wie es weiter geht.

Aber irgendwie geht es jetzt vor uns sehr zähflüssig voran.

Suchen die da vor uns auch noch die Spur?

Die müssten doch die vorgelagerte Gruppe sehen!

Bei einem Stau bedingten Halt spricht mich mein aktueller Vordermann an (Shukra Bir ist drei Personen vor mir, der Rest unserer Gruppe hinter mir): »Jetzt haben wir es gleich geschafft, noch ein zwei Stunden und wir sind in Muktinath!«

Etwas verdutzt frage ich Ihn zurück: »Wie lange seid Ihr denn schon seit dem Thorong La unterwegs?«

Er schaut auf seine Uhr und sagt: »Gut zwei Stunden und drei bis vier Stunden dauert ja der Abstieg bis Muktinath insgesamt!«

Ich denke mir, wo er Recht hat, hat er Recht und schaue zunächst etwas verdutzt auf meinen Höhenmesser, der zeigt immer noch mehr als 5200m an. Ein Blick von mir auf meine Uhr und auch auf seine Uhr, deren Höhenmesser übrigens mehr oder weniger identische Werte anzeigt, verrät mir, es ist auf beiden Uhren etwas nach halb Elf Uhr vormittags. Meine Mannschaft und ich sind seit dem Thorong La Pass keine 30 Minuten unterwegs.

    (Anmerkung des Verfassers: Welche Höhe die beiden Höhenmesser wirklich angezeigt haben, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur daran, dass die Werte im Prinzip gleich waren. Ob es nun 5150m, wie früher in diesem Bericht, oder 5250m oder 5200m waren, kann ich nicht sagen.)

Wir haben in kaum einer halben Stunde mehr als eineinhalb Stunden zeitlichen Rückstand aufgeholt!

Soll ich ihm jetzt die Wahrheit sagen?

Ich entschließe mich dazu und sage zu ihm: »Wenn Ihr in dem Tempo weiter geht, dann seit Ihr nicht vor 22 Uhr in Muktinath!«

    (Anmerkung des Verfassers: 5,5 mal die Höhendifferenz seit dem Pass liegen noch vor ihnen. Zwei Stunden sind sie seither unterwegs. Wenn der gemeine Dreisatz jetzt nicht lügt, dann brauchen sie noch 11 Stunden <=> 5,5 x 2. Jetzt ist es irgendwo bei 10:45 Uhr. 11 Stunden dazu und ein leicht Aufrunden macht dann 22 Uhr.)

Eigentlich habe ich mich darauf eingestellt, in ein aufgrund dieser Information geschocktes Gesicht schauen zu müssen, aber mir steht jetzt ein Gesicht gegenüber, dass in seiner Ausdrucksweise einem Schluck Wasser in der Kurve gleicht!

Was kann man sich unter „einem Schluck Wasser in der Kurve“ vorstellen?

Eigentlich gar nichts.

Und genauso nichtssagend ist sein Gesichtsausdruck. Er hat nichts verstanden, dreht sich um und geht wie ferngesteuert einfach in der Spur weiter. Hab ich den Mann jetzt beleidigt? Hat er überhaupt etwas von meinen Worten kapiert? Oder er hat es einfach nicht hören wollen?

Ein “erlaubtes” Zeitfenster bis 22 Uhr steht für meine Mannschaft und für mich außerhalb jeglicher Diskussion. Auch eine Ankunftszeit von deutlich vor 14 Uhr in Muktinath, die sich für uns aus den gleichen Dreisatzbedingungen wie oben ergeben würden, ist für uns eine noch größere Utopie. So schnell wie bis jetzt geht es sicherlich nicht weiter nach unten. Ziel und “Grenzwert” ist und bleibt eine Ankunft in Muktinath vor 15:30 Uhr, eine Verschiebung nach hinten gibt es nur im äußersten Notfall.

Und als ob jemand die gerade getätigten Rechenspielchen sofort wieder auf die Probe stellen möchte: extrem gemächlich geht es weiter, kaum alle 30m stehen mir wieder.

Na ja, so langsam habe ich mir den Gang nach unten nun auch wieder nicht vorgestellt. Ich denke mir, dass wird sich schon wieder beschleunigen. Aktuell ist die Steilheit der Spur etwas flacher, manchmal ist der Pfad sogar für manche Meter schneelos.

Es geht langsam talwärts, aber es geht immer talwärts, die Sicht ist um keinen Deut besser wie weiter oben, nur die Whiteouts sind nicht mehr da. Die gelegte Spur folgt dabei auch den Markierungsstangen und verläuft nicht immer in der direkten Linie, sondern als ob jemand genau weiß, wie man eine Spur hier heute vernünftig legen sollte.

Ein fürchterliches Magengefühl

Wir nähern uns langsam einen längerem Taleinschnitt, der wie eine vergrößerte Halfpipe wirkt, mit der Senke/Rinne in Tal- bzw. unserer Laufrichtung.

Inzwischen bin ich von unserer Gruppe der „Frontmann“. Die nächste Markierungsstange ist noch nicht erkennbar und auch der Horizont über der Halfpipe ist nur eintönig grauweiß in weißgrau gehalten, also sichttechnisch absolut nicht vorhanden. Die Menschen vor mir gehen in der Rinne der Halfpipe durch selbige. Nur irgendwas in mir sagt, wo ich gerade im “Eingangsbereich” der Halfpipe stehe, ohne Worte und unmissverständlich:

„Halt Heinrich, Du gehst Da nicht durch, nicht auf diesem Weg! Keine Widerrede! Mach Dir nicht einmal im Ansatz Gedanken dazu hier durchzugehen! Vergiss es!“.

Ich mache mit beiden Armen zu den mir folgenden Personen eine eindeutige Stoppbewegung und alle hinter mir bleiben stehen, wahrscheinlich alle ohne zunächst zu wissen warum.

Der hinter mir laufende Ram prasad fragt verdutzt: »Was ist los?«,

ich antworte: »Irgendwas stimmt hier überhaupt nicht!«,

Ram prasad: »Warum?«,

Ich: »Ich geh den Weg auf keinen Fall, den die anderen da gehen, der kann nicht stimmen! Das könnt Ihr komplett vergessen!«,

Ram prasad: »Warum?«,

Ich: »Keine Ahnung, aber ich geh in definitiv nicht!« … »Schau da links 20m oben am Hang: das erste Steinmännchen seit dem Pass und auch noch richtig massiv gebaut und von der Sicht müsste die nächste Markierungsstange eigentlich sichtbar sein, wir sehen aber nichts.« … »Der Hang da rechts auf der anderen Seite gefällt mir nicht! Von da ist irgendwas im Busch!«.

Die zweite Hälfte in der Länge der „Halfpipe“ gefällt mir gar nicht.

Das ”Tal” in der zweiten Hälfte der “Halfpipe” ist irgendwie schneeplatt, als ob da schon ein kleiner Lawinenabgang war, im ersten Teil der “Halfpipe” ist das Tal aber abgerundet. Eine partiell schneefreie Stelle nach im kaum einsehbaren rechtseitigen Hang, wo eigentlich dem Bauchgefühl nach nicht schneefrei sein dürfte, verstärkt meine Vermutung. Direkt darüber geht es mit einem kleinen Schneeüberhang weiter, und man sieht nur die ersten 20-30 Höhenmeter, was dann oberhalb folgt, bleibt im Nebel verborgen.

Wie geht es da lawinengefährdungsmäßig weiter?

Es würde mich wirklich nicht wundern, wenn da demnächst nochmals eine Lawine abgeht. Dies wäre nicht das erste Mal. Letztes Jahr waren es zwei Lawinen an identischer Stelle auf der Everestrunde binnen einer Minute, ich und meine Begleiter unter einem Felsvorsprung in zwei bis drei Meter Entfernung harrend.

Binnen weniger Sekunden wird dann der Schnee zu einer weißen Masse, härter als Stahlbeton, wehe wenn da jemand dazwischengerät.

Wenn man mit eigenen Augen sieht, wie immer mehr Schnee einfach nur noch nachrutscht und alles Schnee immer mehr verdichtet, verdichtet und nochmals verdichtet wird, denkt man als “Zwangszuschauer” nur noch, dass es endlich ein Ende haben soll mit den Schneemassen. Letztes Jahr war dieses Ende glücklicherweise ohne Personenschaden.

Ich gebe meinen Hintermännern ein Zeichen, dass es hier nicht weitergeht und deute auf das Steinmännchen und sage zu Ram prasad oder Shukra Bir:

»Warum ist da oben ein Steinmännchen? Geht der Weg dort oben weiter und wir würden unten einfach durch ein potentielles Lawinengebiet marschieren? Irgendwas in mir sagt, geh da unten nicht durch!«

Anscheinend erkennen Shukra Bir und Ram prasad die unverrückbare Ernsthaftigkeit meiner Körpersprache sowie das mehr als nur „mentale Unwohlsein“ meinerseits. Shukra Bir und einer der Träger machen sich auf, ob vom Anfang der Halfpipe ein Pfad auf den Hügel der Halfpipe zum Steinmännchen geht, kommen aber ohne eindeutiges Ergebnis zurück. Sie meinen, entweder da ist kein Weg, oder der Neuschnee ohne Altschneelage lässt keinen Weg erkennen. Beide vermitteln mir aber das Gefühl, der Weg müsste eigentlich weiter oben verlaufen.

Wir beschließen (bzw. ich ordne ohne Widerrede an), einfach einmal stehen zu bleiben und zu beobachten, was die Menschen fast 100m vor uns machen, auch wenn die Personen direkt hinter uns schon sehr ungeduldig werden. Ich habe fast das Gefühl, dass jetzt gleich jemand seine Trekkingsstöcke zu einer Stichwaffe umfunktioniert. Aber jetzt kommt hier definitiv keiner an mir vorbei.

Nach geschätzt 1-2 Minuten Warten sehen wir, dass die Menschen weit vor uns in der “Halfpipe” kurz stehen bleiben und dann vom Tal der Halfpipe nach links bis auf gut der halben Höhe der Seitenmoräne ausweichen und dort an der Grenze zwischen Schneeauflage und gefrorenen Moränenschutt weitergehen.

Von einem Augenblick zum nächsten Augenblick ist mein in dieser Situation nicht nachvollziehbares mentales Unwohlsein gänzlich verschwunden. Ich kann mir aber keinen Reim daraus machen warum und wieso, wenigstens aktuell nicht! (Anmerkung des Verfassers: Dafür aber nach dieser Reise umso mehr.)

Dreh ich da jetzt schon hohl und merke es nicht?

Meine ich, ich könnte es an den anderen sehen, wenn bei denen der Keilriemen schleift?

Und der eigene Keilriemen ist schon am abreißen bzw. schon längst gerissen?

Ich gehe einfach als Erster los und spure den Weg sofort auf die fast Zweidrittelhöhe der linken Seitenmoräne an der Grenze zwischen Schneeauflage und gefrorenen Moränenschutt und alle anderen folgen mir.

Mein Bauchgefühl sagt mir, ohne dass ich eine Ahnung habe warum, dass eine Lawine nicht weiter als bis zu dieser Höhe abgehen würde.

Nach geschätzten 100-200m in der „Halfpipe“ ist die nächste Markierungsstange am Ende einer Linkskurve zu sehen. Ich denke mir der „Originalweg“ könnte jetzt doch oben verlaufen sein. Bestätigung in meiner Vermutung finde ich an der Markierungsstange. Von dieser Stange sieht man das Steinmännchen aber nicht die vorgelagerte Markierungsstange. Ich kann mir aber in der aktuellen Situation noch keinen Reim daraus machen, warum die Menschen vor mir mitten in ihren Weg diesen Schlenker nach links gemacht haben.

Auch keinen Reim kann ich mir zunächst daraus machen, warum wir so langsam unterwegs sind. OK, manche vor uns sind doch etwas sehr unbeholfen mit ihren Stöcken, die gehen halt einfach nicht aus der Piste, Heinrich, musst eben damit leben! Aber:

Warum haut es die Leute vor mir und mich auch manchmal einfach nur hin?

Gut, die Spur ist jetzt deutlich steiler und glatt ist sie auch, aber das kann doch nicht der Grund sein? Irgendeiner im Umkreis von 50m liegt eigentlich immer gerade am Boden, und sie fliegen schon vom Rumstehen um.

Ich war doch im letzten Jahr auch auf solch einer Spur unterwegs und da ist niemand gestürzt!

Was ist diesmal anders?

Ein deutscher Unfall

Ich komme gar nicht dazu mir den Grund dieser Umstände zu evaluieren, als ich gut 50m vor uns etwas sehe und zum hinter mir laufenden Ram prasad sage:

»Schau mal da vorne! Ein deutscher Unfall!«.

Verständnislos fragt Ram prasad zurück: »Ein deutscher Unfall?«,

worauf ich ihn antworte: »Oder kannst Du mir sagen, warum jemand auf gut 5000m vor einem Menschenauflauf zwei Stöcke kreuzt? Könnte ja ein Schifahrer auf 5000m ü.NN in die ungesicherte Unfallstelle rasen!«.

Als wir näher kommen, sehen wir eine Menschentraube von sicherlich 10 Personen um eine am Boden im Schnee liegende und von ihren Schmerzen gekrümmte Frau, die unter Weinkrämpfen und in deutscher Aussprache unmissverständlich ihre starken Schmerzen kund tut. Eine männliche Person spricht sie auf Deutsch an, dass sie jetzt aus 2 Trekkingstöcken eine Schiene bauen werden. Neben ihr liegt eine einfache, zusammenbastelbare Alutrage. Wenn ich mir die doch sehr ungewöhnliche Lage ihres rechten Fußes betrachte, kann ich mir aus eigener leidvoller Erfahrung ausdenken: hier ist Minimum das Wadenbein gebrochen.

Auf über 5000m Höhe, das wird ein deftig makaberes Unterfangen! Hoffentlich darf die Frau ihr Unglück überleben!

Ich schaue in das schmerzverzerrte Gesicht der Frau und denke nur noch: Nein, das kann es jetzt wirklich nicht sein! Bitte nicht! Das wird doch jetzt nicht die … sein! Die Frau hat eine große Ähnlichkeit mit einer Person aus einer Gruppe von einer meiner früheren Reisen. Instinktiv schaue ich in die Gesichter der umherstehenden Personen, ob ich unter ihnen ihren Ehemann sehe. Ich finde ihn nicht darunter. Ist die Frau doch jemand anders, oder weiß ihr Ehemann noch nichts vom Unglück! Ihr „Aua, dass tut so weh“ lässt mich aber erkennen, dass ihr Regionalakzent aus einer anderen Ecke Deutschlands stammen muss.

Im kurzfristigen Schockzustand und doch sichtlich erleichtert führe ich meine Hände unweigerlich zum Gebet und hoffe, dass Gott ihr die Chance lässt, diese Situation lebend zu überstehen. (Anmerkung des Verfassers: Spätere Pressemeldungen bestätigen das Überleben, auch wenn in der Presse zunächst von einem deutschen Mann die Rede ist. Aber: Schuhgröße, Kleidung, Aussehen und die Tonlage des „Aua“ passten nicht zu einem Mann).

Schlagartig wird mir bewusst, dass ich seit der „weißen Wolke“ unmittelbar nach dem Thorong La Pass die ganze Zeit nur noch als 100% konzentrierte Maschine funktioniert habe. Deutlich mehr als eine Stunde immer nur konzentriert, alles in der Umwelt und Umgebung beobachten, die Anderen beobachten, beobachten, wie die Anderen einem selber beobachten, Fehler erkennen, Gefahrenlagen erkennen, Gefahrenlagen einschätzen, Entscheidungen treffen, Entscheidungen umsetzen deren Erfolgschancen geschweige denn deren Richtigkeit man nicht kennt, Hauptsache entscheiden, Sicherheit verbreiten, ein gegenseitiges Aufschaukeln von Unsicherheiten verhindern, nichts übersehen, versuchen Fehler anderer zu verhindern, Fehlerrisiken anderen einzuschätzen, Gefährdungen anderer auszuschließen, Risikoabwägungen treffen und vieles mehr und dann alles immer wieder von vorne.

Und zu Hause ist es oft unmöglich so viel Konzentration aufzubringen, dass man z .B. beim Go-Kart-Fahren zwei absolut fehlerfreie Runden unmittelbar nacheinander hinlegen kann. In solch einem Falle schwitzt man ja schon ab der zweiten Runde nur noch Blut und Wasser.

Was ist das jetzt hier?

Die primäre und weitere Versorgung des Unfallopfers scheint uns allen gesichert, so dass wir entscheiden, weiter talwärts zu gehen. Ich mache zu Ram prasad einige Meter talwärts später mit Blick auf die „Unfallstelle“ eine Handbewegung mit der vor dem Körper hin und her gewedelten Hand und auseinandergezogenen und zusammengepressten Lippen (<=> mit „Nichts Gescheites“, „Au weh“, „Eijeijei“, …). Ich weiß zwar nicht, ob es diese Handbewegung in Nepal auch gibt, Ram prasads eindeutige Reaktion und Mimik darauf, zeigt mir aber, dass er gleicher Meinung ist.

Aber was hat hier passieren können?

Die Gründe dazu werden wir im weiteren Verlauf des Abstiegs nur allzu oft noch miterleben dürfen, aber immer mit einem glücklicheren Ausgang. Auch mich hat es schon mehrmals einfach flach gelegt, ich konnte immer irgendwie nicht mehr das Gleichgewicht halten.

Den „Fall Down“ gibt es heute immer dann, wenn man am steilen Hang anhalten muss. Die ersten Sekunden das Gleichgewicht halten funktionieren noch, aber ab dann wird es rutschig. Als Folge versucht man dennoch das Gleichgewicht zu halten, obwohl schon einer der beiden Schuhe ganz langsam talwärts rutscht.

Belastet man jetzt den abrutschenden Fuß stärker, rutscht man gefährlich nach vorne weg. Weil aber inzwischen der Körperschwerpunkt nicht mehr über dem Standbein liegt, führt das verstärkte Belasten des Standbeins zum Hinfallen. Am Hang bedeutet dies auch ein Abrutschen. Es gibt fast nur eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Aber warum?

Hab ich da immer auf den Vordermann/-frau geschaut, mich nicht auf den Weg konzentriert?

Habe ich immer versucht, ungeschützten Annäherungen von Trekkingstockspitzen oder dem Lichtraumprofil wild um sich fuchtelnder Trekkingstöcke von hinstürzenden hilflosen Trekkingstockbesitzern aus dem Weg zu gehen?

Stand ich am (Ab-)Hang einfach nicht sicher genug?

Und warum ist da letztes Jahr bei gleichen Schneeverhältnissen und Hanglagen nicht passiert?

Was läuft hier schief, weiter oben ging es doch auch problemlos und auch die Träger haben ihre Schlittschuheinlagen?

Mit Stöcken haut es die Anderen noch wesentlich öfters hin!

Was passiert denn hier noch alles?

Beim inzwischen schon immer ungeduldiger werdenden Warten in der steilen Spur darauf, dass es vorne mal wieder irgendwann weiter geht, wird mir der Grund für die Stürze schnell bewusst und auch die Abstellmaßnahme(n) dazu: es liegt am schmelzenden Schnee! Schmelzender Schnee, hier bei deutlich unter 0°C? Ja der Schnee schmilzt, aber nur unter den Schuhsohlen, und meist nur beim Rumstehen!

Aber wieso, warum, weshalb?

Steht man nicht tief in der Spur, dann bildet sich aus dem Schnee ein geschmolzener “Schmierfilm” zwischen Schuhsohle und Schnee und dann ist es dort absolut glatt.

Stockbenutzer treten wegen der zusätzlichen Verteilung der Belastung auch auf die Stöcke dann mit noch weniger Belastung auf die Schuhsohlen auf, die Verzahnung in der Spur ist geringer. A- und AA-Schuhe, Letztere benannt nach dem ausgesprochenen Worten von Kleinkindern, wenn ungewollt das große Geschäft verrichtet wurde, oder die Sommerbereifungen von so manch Einem/Einer haben ein weiches und wenig verzahnendes Profil, verschlimmern also den Effekt nochmals. Irgendwann ist die Abdrucktiefe des Profils im Schnee zu gering und die flüssige “Schmelzschicht” zwischen Schuh und Schnee zu dick. Das Unglück nimmt dann seinen Lauf.

Zu allem Übel kommt auch noch der Abstand innerhalb der Spur von meist nur einen Meter zum Vordermann/-frau dazu. Der Bewegungsablauf erfolgt bei solchen Abständen weitestgehend wissentlich, v.a. nur mit dem Verstand und kaum intuitiv. Weiter oben hatten wir oft viele Meter Abstand zum Nächsten, ich kann mich nicht erinnern, immer genau auf den nächsten Schritt geachtet zu haben. Ich war irgendwie immer mental schon ein paar Schritte weiter und passiert ist nie etwas.

Was funktioniert jetzt anders?

Es bleibt mir nichts anderes übrig, Ich muss mich mit der Thematik auseinandersetzen. Ich erinnere mich daran, dass ich bei meinem Arbeitgeber Schulungen zu Ergonomie und Arbeitsphysiologie mache und zähle Eins und Eins zusammen.

Warum habe ich da nicht gleich daran gedacht?

Da wären die Probleme mit den Trekkingstöcken: Sie stören einfach den unterbewusstseinsgesteuerten, intuitiven Bewegungsverlauf und ersetzen ihn oft durch einen verstandsgesteuerten, immer auf den nächsten Schritt bedachten, Bewegungsablauf.

Der übliche Winkel der Ruhe-Sehachse der Augen zum Lot der Kopflängsachse beträgt 10-15° (<=> 10-15° zur Horizontalen, wenn man den Kopf gerade halten würde). Da der Hinterkopf meist schwerer als der vordere Bereich des Kopfes ist , halten die meisten Menschen aus Gleichgewichtsgründen in entspannter Haltung den Kopf um 5-10° nach vorne gebeugt. In entspannter Haltung ergibt dies zusammen eine zwischen 15° und 25° zur Horizontalen nach unten verlagerte Sehachse. Bei einer Augenhöhe von 1,5m über Boden ergibt das etwa einen Abstand von 5m, bis die Augen im zentralen Sehfeld den Boden sehen. Und in diesen Abstand sollten sich in schwieriger Lage die Füße bzw. das “Gefahrsteuerobjekt“ des Vordermanns befinden. Bei 1m Abstand befindet man sich im „Verstandsteuermodus“, man muss sich immer fürchterlich auf die vor einem lauernde “Gefahr” konzentrieren und liegt doch dann manchmal im Schnee. Im 5 Meter Abstand läuft es sich wie von selbst, das Unterbewusstsein regelt alles (richtig) ohne gezieltes Zutun.

Aber was hilft einem jetzt die beste Theorie, hinter mir höre ich schon wieder einen Notleidenden, der verzweifelt versucht, die Auswirkungen seines Sturzes auf seine (zweibeinige) Umwelt zu verringern.

Instinktiv springe ich hangseitig aus der Spur und werfe mich in den Schnee, in der Hoffnung dort auf kein hartes Hindernis zu stoßen. Ich sehe noch im Augenwinkel, wie die Person mit ausgestrecktem Bein an meinem „ursprünglichen“ Standplatz vorbeirauscht. Zum Glück war niemand von meiner Gruppe als Hindernis dazwischen. In unmissverständlicher Zeichensprache gebe ich ihm zu verstehen, nie mit ausgestreckten Beinen hinzufallen, sondern zumindest die Beine anzuwinkeln. Wenn er mit einem seiner ausgestreckten Beine in meinen unvorbereiteten Standfuß (den ich beim Stehenbleiben aus “Sicherheitsgründen” hier meist nie zu 100% durchstrecke, manchmal geht es aber ohne Durchstrecken nicht) in 20-30cm Abstand über den Boden rauscht, dann dürfte die Frau von weiter oben mit dem gebrochenen Bein zu mir sagen: „Willkommen im Klub!“.

Und jetzt muss ich den “Vorbeigerauschten” auch noch beim Aufstehen helfen, da er mit angeschnallten Stockschlaufen und Trekkingstöcken bei dieser Tätigkeit hilfloser als ein gestrandeter Wal wirkt. Aber mit dieser Hilflosigkeit hat er bei der Trekkingstockmafia heute hier am Berg wirklich kein Alleinstellungsmerkmal.

Langsam merke ich, dass aus der ursprünglichen Konzentration auf das „Situation-überstehen-müssen“ eine Konzentration auf ein „Was-passiert-denn-hier-noch-alles?“ wird.

Wenn ich auf meinen Höhenmesser schaue, dann sind wir erst bei 4900m angelangt. Wir haben noch 1200 Höhenmeter vor uns!

Noch nicht einmal ein Drittel ist geschafft!

Mir wird bewusst, dass es in diesem langsamen Tempo unmöglich weitergehen kann. Wir müssen schneller vom Berg runter!

Nur wie?

Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken hier die „Villarica“-Methode anzuwenden, aber dazu haben wir mit unserem einzigen Eispickel zu wenig von dieser Sorte. Ich ordne diese Möglichkeit in der Prioritätenliste unter „wenns wirklich nicht mehr anders geht“ ein.

Aber was ist die „Villarica“-Methode?

Menschen die am schneebedeckten Vulkan in Mittelchile schon oben waren, dürften sofort wissen, was damit gemeint ist. Aufgrund der Schneequalität dort über bis zu 1600m Höhenmeter talwärts ist es viel zu gefährlich im Zick-Zack oder in der Direttissima abzusteigen. Stattdessen setzt man sich in den Schnee und rutscht über immer wieder selbst neu geschaffene Bobbahnen oder in der Bobbahn des Vordermanns im Schnee den Berg hinunter. Der Eispickel dient als Bremse, indem man ihn mit beiden Händen fest in der Hand hält. Den Griff bodenparallel nach vorne, eine Hand am Griff, die zweite Hand zwischen Griff und Hauen und die Hauen parallel zum Oberkörper. Aber wir haben hier nur einen Eispickel, ich müsste als auch der Bremser für die mir unmittelbar nachfolgenden Leute meiner Gruppe sein. Ob ich da 400-500kg zusätzlich bremsen kann? Wenn da ein falscher Fels zwischen linkem und rechtem Bein auftaucht, dann gibt es nicht nur Ärger mit dem Kindergeld, sondern ich könnte durchaus zu einer gespaltenen Persönlichkeit entarten! (Anmerkung des Verfassers: Die Funktionsweise der “Villarica-Methode ist nachlesbar hier)

Wenn dann auch noch jemand aus einem Schadensersatz prozessierfreudigen Land stammt und aus dort schadensersatzirrelevant geltenden Dilettantismus diese Spur in der Direttissima als die Normalspur aufgefasst, ich will mir die Folgen daraus gar nicht ausmalen.

Bummelzüge und Beratungsresistenzen

Ich sage zu Shukra Bir und Ram prasad, dass ich nicht mehr hinter den ganzen Bummelzügen vor uns nachlaufe und an geeigneten Stellen überholen werde und dann in meinem Tempo weitergehen werde. Da ich mir noch nicht ganz sicher bin , ob meine jetzt ausgedachte Abstiegsmethode auch so funktioniert, verkneife ich mir es noch, ihnen zu sagen, dass sie es mir in gleicher Art nachmachen sollen.

Nur ein Überholen von Personen stellt sich gar nicht so einfach dar.

Die Spur ist immer so eng und keiner kommt auf die Idee, sie hangseitig zu verbreitern, damit es auch leichter für Personen in Normalspurweite funktioniert. Talseitig besteht sonst immer die Gefahr in ein nur oberflächlich festgetretenes Loch zu treffen. Schon seit geraumer Zeit versuche ich immer hangseitig die Spur um eine Schuhbreite zu verbreitern. Dies hat zur Folge, dass sich hinter mir die „Einbrechlöcherquote“ deutlich verringert.

Soll ich jetzt mit voller Penetranz einfach überholen?

Ich entscheide mich dagegen, aus der Angst heraus, jemand könnte später behaupten, ich sei schuld, dass er/sie an dieser Stelle gestürzt sei.

Es ist aber schon erstaunlich: wenn man sich bereits auf gleicher Höhe mit der Vorderperson befindet, diese diesen Umstand eigentlich problemlos bemerken müsste, dass diese sich nur noch fester an die Stöcke klammert und ohne Blickkontakt stur nach vorne blickend unbeirrt weitergeht. Frei nach dem deutschen Volkslied: “Uf der nepalschen Eisenbahne ...”.

Schaffe ich den Überholvorgang bis zur nächsten Kurve?

Warum lässt man sich nie überholen?

Es haben mich doch heute ohne Ausnahme alle Personen, die heute den Thorong La Pass bis zu unserer “Abreise” vom Pass “hinauf” sind, beim Aufstieg bereits überholt. Und jetzt handeln sie nach der Methode “Schau doch selber, wie du (du absichtlich kleingeschrieben) weiterkommst.”

Warum laufen jetzt nicht wenige mit seitlich ausgestreckten Armen und senkrechten nach unten gehaltenen Stöcken und versperren auf gut zwei Meter Breite die gut vierzig Zentimeter breite Spur?

Aber irgendwann findet sich dann doch irgendwie eine Möglichkeit zum Überholen und ich bin in meiner „Einheit“ nun ganz vorne. Von nun an laufen die nächsten Schritte fast schon wie geschmiert. Sicherheitshalber versuche ich sehr betont mit der Hacke aufzutreten, damit sich das Profil besser im festgetretenen Schnee verhakt. Auch die Geschwindigkeit talwärts verändert sich zum Schnellen sehr rasant, kein Vergleich mehr zu vorher. Ich fühle mich absolut sicher, auch im steilen Gelände.

Aber nach dem Aufholen von hundert Meter Vorsprung ist es vorbei mit der Herrlichkeit, der nächste Bummelzug besetzt das Gleis.

Die letzten Meter vor dem letzten “Waggon” des Bummelzuges gemütlich auslaufend, erkenne ich im Blick zurück, dass meine Guides und Träger meinem Vorbild folgen. Zwar wesentlich vorsichtiger, aber sie versuchen es wenigstens.

Während eines nun zwangsläufig wieder notwendigen Streckenhaltes sage ich zu Shukra Bir »Jetzt seht ihr, wie es hier eigentlich funktionieren sollte. Macht es einfach so wie ich oder versucht es wenigstens in dieser Richtung. Ich weiß, mit Euren Bereifungen und Traglasten ist es nicht so einfach wie mit meinem Antarktisprofil, aber probiert es einfach! Das machen wir jetzt so, bis der Schnee aufhört!«.

Ich erkenne in den jetzt wieder ins Spitzbübische übergehenden Gesichtern meiner Begleiter, dass sie von der bisherigen ewigen Warterei auch schon richtig genervt waren.

Da ich sehe, dass die Frontpersonen unseres aktuellen Bummelzuges einen sehr unbeholfenen Eindruck machen, versuche ich vor dem nächsten Steilstück zum Triebkopf unseres Zuges zu mutieren, sprich ich setze mich an die Spitze. Denn dass die jetzt da vorne zu dritt händchenhaltend seitlich die Spur abrutschen, und fast nach jedem Meter hinfallen, da stellt es mir die Haare zu Berge.

Bereits 40m vor mir „wartet“ dann schon der nächste Bummelzug. Folglich bleibe ich vor dem anstehenden Steilstück für einen Augenblick stehen, stoße dabei aber auf absolutes Unverständnis in den Gesichtern der hinter mir Laufenden, auch wenn ihre Gesichter ansonsten absolut desorientiert wirken.

Man hat auch sonst aktuell meist absolut keine Chance, auch nur etwas Brauchbares aus den Gesichtern der Personen zu lesen. Und eine situative Rückkopplung zu ihnen, eigentlich die normalste Sache auf der Welt, ist nur ganz selten gegeben. Irgendein Schalter steht da bei sehr vielen Personen in Stellung “OFF”.

Hoffentlich ist da wenigstens bei vielen das Themengebiet “Selber denken” nicht unbesetzt!

Ich sage zum trekkingstockbewaffneten Händchenhalteclan hinter mir: »Look at me and do it in the same way!« und starte nach der inzwischen erprobten Manier den Abstieg an der Steilstelle. Aber bereits nach wenigen Schritten kann ich hören, dass hinter mir wieder die Trekkingstöcke klappern. Unterhalb der Steilstelle angekommen sehe ich, dass sie wieder händchenhaltend das Steilstück abrutschen, meist fallend, mal halbstehend, irgendwie mich noch wundernd, dass sie sich dabei nicht auch noch gegenseitig verknoten.

Richtig frustriert denke ich mir: Leute, man hat den Kopf nicht nur, damit es nicht in den Hals reinregnet! Auch sehe ich, dass meine Begleiter auch nur noch den Kopf über diese Darbietung(en) schütteln.

Sind die Leute hier denn heute absolut beratungsresistent?

Haben die denn nicht den Ernst der Lage kapiert?

Der Schneesturm ist vorbei, aber wir haben noch einen verdammt langen Weg vor uns! Ich denke für mich nur noch: “Wenn Ihr so weiter macht, dann könnt Ihr Euch morgen an Euren acht Fingern abzählen, dass man so langsam den Berg nicht absteigt!”

Leute es geht jetzt nicht um ein “Like” bei Facebook, Leute es geht jetzt um Eure Finger und Zehen!

Auch das Gelächter der Leute beim Stürzen und Hinfallen kann ich nicht einer Albernheit aufgrund der Unterbeschäftigung beim Warten zuordnen. Irgendwie habe ich das Gefühl, hier sind viele schon auf der Stufe nach einem Nervenzusammenbruch angekommen. Kaum noch zugänglich für Informationen nach außen hin, irgendwie nur noch an den nächsten Augenblick denkend und fürchterlich davor Angst habend, etwas falsch zu machen.

Ich warte fast schon auf den Spruch: “Ja mei, dann halt im nächsten Leben”.

Aber auch mich legt es nach dem Überholen des nächsten Bummelzuges noch einmal in die Bauchlage. Ich finde aber bei mir selbst sofort den Schuldigen. Ich sollte beim Arbeiten nicht unbedingt den schönen Mädels nachschauen. V.a. wenn sie sowieso schon in männlicher Begleitung sind, auch wenn die sonst zu erblickenden nonhumanoiden Geländeformen kaum Abwechslung bieten.

Es wird die letzte Bauchlandung am heutigen Tage und auf der ganzen Reise bleiben.

Interessanterweise sehe ich, dass außer meinen Begleitern niemand unserem Vorbild folgt, obwohl ersichtlich ist, dass unsere Vorgehensweise um ein Vielfaches schneller ist.

Sind jetzt meine Mannschaft und ich die Spezies, die alles falsch machen, und meinen, es seien die Anderen?

An der nächsten größeren Steilstelle versuche ich wieder mich an die Spitze der Kolonne zu setzen und will wieder warten, dass die Steilstelle frei ist, denn die Beholfenheit der Menschen hat sich nur unwesentlich verbessert.

Dann spüre ich, dass jemand mit einem Trekkingstock, ungeschützte Spitze ohne Schneeteller voraus, auf meine Schulter klopft. Instinktiv schütze ich mit meiner linken Hand mein Auge und versuche die gefährliche Stockspitze aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Dies gelingt mir auch, aber nach dem Umdrehen macht mir der zugehörige Stockbesitzer nonverbal durch sehr betontes Schlagen des linken Stockes in Hüfthöhe in meine Richtung deutlich, dass ich doch gefälligst weitergehen soll. Ich denke mir zunächst, dass er froh sein soll, dass er sich nicht im Lichtraumprofil meiner rechten Hand befindet, rege mich aber wegen dieser Gedankenlosigkeit nicht weiter auf. Eigentlich sollte doch jeder wissen, dass man jemanden mit dem Stock auf Augenhöhe falls überhaupt, dann nur mit den Griffen voraus antippt.

Jetzt habe ich aber vor, dass ich an dieser Steilstufe zusätzlich zum letzten Male mit meinen Schuhhacken zusätzlich Stufen in den Schnee haue. Vielleicht kapieren die Leute es dann.

Aber auch diese Liebesmüh hätte ich mir sparen können. Es gilt leider wieder: „the same procedure as last time“.

Ich denke nur noch, dass ich mir hier doch nicht unnötig mein Schuhwerk ruiniere und den Leuten geht diese Hilfestellung sowas von restlos am Arsch vorbei. Was meine Schuhe betrifft, wundert es mich sowieso, dass bis auf eine kleine Stelle an der Schuhspitze der Schuh außen immer noch komplett trocken ist, innen ja sowieso. Aber weiter unten im Tal wird der Schnee schon noch nasser werden.

Aber wie weit geht der Schnee noch hinab?

Wir haben hier immer noch eine große Nebelwolke, es gibt keinen Horizont zu sehen. Ich denke mal mindestens bis Chabarbu (oft auch Muktinath Phedi genannt), und das müsste doch aus der aktuellen Erinnerung bei 4200m ü.NN liegen. Die aktuelle Pegelstandsmeldung ist aber immer noch irgendwo bei 4700m ü.NN.

Um Missverständnissen vorzubeugen, muss ich auch einmal die Lanze über nicht wenige brechen, die hier nach unten gehen. Man hat das Gefühl, sie wissen was sie tun, haben verstanden, dass Trekkingstöcke ohne Schneeteller heute äußerst kontraproduktiv sind und tragen die Stöcke in den Händen. Diese Personen kommen meist auch sturzfrei durch Steilstellen und wirken auch durchaus entspannter. Auch lassen sie sich nach kurzen Blickkontakt überholen.

Was ich aber vermisse: fast niemand von ihnen übernimmt Eigeninitiative oder übernimmt die Führung eines Bummelzuges. Irgendwie sind alle in sich selbst gekehrt.

Sind die beim Beginn des Aufstiegs noch homogenen Gruppen inzwischen kunterbunt auf unzählige Bummelzüge verteilt? Es ist auch schnell erkennbar, wenn jemand mit Erfahrung vor einem geht. Das Abbremsen in der Spur ist meist nicht abrupt, sondern geschieht mit einer Vorankündigung. Dies erleichtert das Nachfolgen ungemein.

Aber anscheinend ist sich keiner des immer akuter werdenden zeitlichen Problems bewusst, wenn es weiter so langsam nach unten geht.

Dafür muss man aber den Spurlegern, sowohl beim Aufstieg und auch beim Abstieg, bis jetzt ein wirklich großes Lob aussprechen. Riesen Danke an Euch dafür!

Irgendwann wird es auch nach dem gefühlt einhundertstem gehörten Kochrezept langweilig. Seit geraumer Zeit unterhalten sich 2 Frauen vor mir in einem deutschsprachig angelehnten Regionalakzent über die unterschiedlichsten Kochrezepte und wie schlecht sie heute drauf wären. Dass ich beide eigentlich schon seit einer gefühlten Ewigkeit überholen möchte, interessiert sie nicht die Bohne. Sie schaffen es bei ihren zwischenzeitlichen Sturzeinlagen, diese so zu organisieren, dass wieder die komplette Spur inklusive Umgebung versperrt ist. Erst nach mehreren Versuchen, beim zwischenzeitlich immer wieder notwendigen Wiederaufstehen dererseits haben sie sich partout nicht helfen lassen wollen, genehmigen sie letztendlich den Überholvorgang.

Im weiteren Verlauf des Abstiegs verlieren wir ziemlich rasch an Höhe. Wir müssen zwar noch viele weitere Bummelzüge überholen, die Wartezeiten dazu halten sich aber in Grenzen. Genaugenommen gewöhnt man sich nur an das Unvermeidliche. Auf die Bummelzugfetischisten eindrängend wirken wollen wir ja auch nicht.

Wieder einmal am Ende eines Bummelzuges angelangt, fällt mir an meinem Vordermann auf, dass er nur einen kleinen Rucksack trägt. Er wirkt als Einheimischer, alle vor ihm scheinen nicht Einheimische zu sein. Ich schätze ihn als Guide der vorgelagerten Gruppe ein

und frage ihn, »Deine Gruppe da vor Dir?«,

er antwortet, »Nein, ich weiß nicht wo meine Leute sind, hast Du sie gesehen?«,

darauf ich, »Wie schauen sie denn aus?«,

darauf er »Keine Ahnung!«.

Sofort kommt mir mein Spruch von gestern zu meiner Begleitmannschaft in den Sinn: „… damit Ihr wisst, wie ich morgen ausschaue …“

Ich verkneife mir jetzt noch weiter über das Verhalten von so vielen hier den Kopf zu schütteln. Andernfalls habe ich ab morgen einen deftigen Muskelkater in den Halsmuskeln. Auch muss ich bei mir immer wieder eine Lösung dafür finden, dass ein aufkommender Frust bei mir über den Dilettantismus der “Umgebung” nicht zu Unkonzentriertheiten meinerseits oder sogar zu Fehlern führt. Das wäre die letzte Sache, die ich heute noch brauchen könnte.

Nur rund um mein linkes Auge und am rechten Auge dann auch nur mit zeitlicher Verzögerung kündigt sich das nächste Unheil an. Bisher hatte ich diesem Umstand noch keiner Bedeutung beigemessen.

Wie fast alle hier bin ich wegen der schlechten Sichtbedingungen ohne Gletscherbrille unterwegs. Vom Gefühl könnte man ja fast meinen, manche Vollmondnächte sind heller als heute der helligste Tag.

Seit geraumer Zeit schlägt irgendetwas immer gegen mein linkes Auge. Als Übeltäter entlarve ich einen horizontal liegenden Eiszapfen, der sich an meine Augenbrauen angehängt hat und jetzt bei fast 2cm Durchmesser immer wieder versucht am Augapfel anzuklopfen.

Wie bringe ich nun diesen Kameraden am linken Auge und auch dem kleineren Ableger am rechten Auge wieder los, die nerven inzwischen schon gewaltig?

Abschmelzen mit den Handschuhen gibt nur eiskalte Finger. Mit der Hand zerdrücken klappt nicht. Einfach abreißen bringt nur eine augenbrauenlose Gesichtshälfte oder hat ein Augenbrauentoupet zur Folge. Über die Schmerzen dazu möchte ich jetzt gar nicht reden. Ram prasad ist mit meinem aufgegebenen Gepäck und auch mit meinem Tagesrucksack weiter oben, da hätte ich eine Kombizange drin. Soll ich auf ihn warten?

Äh, warum ist eigentlich mein Rucksack noch bei Ram prasad?

Oder habe ich etwas anderes, um die Eiszapfen zu zerstören? Ich denke nach:

Ersatzakku nein, Handschuhe haben kein Metall oder Hartplastik, Jackenreißverschluss könnte sprichwörtlich ins Auge gehen, Gürtel der Trekkinghose – ich mach jetzt hier keinen Striptease, Münze aus dem Geldbeutel – ob das mit Handschuhen funktioniert, Taschenmesser ist im Rucksack bei Ram prasad. Uhrband, das könnte funktionieren. Es hat eine schneidenhafte Kontur und ich könnte es so umklappen, dass ich die ganze Sache außerhalb des Gefahrenbereichs rund um das Auge machen könnte.

Mit der Seite des Metallarmbands ist zwar ein gehöriger Druck notwendig, die Eiszapfen lassen sich in kleine Stücke teilen und komplett beseitigen.

Wieder ein Problem weniger.

Eigentlich ohne besondere, neuartig gelagerte (an die bisherigen hat man sich ja schon gewöhnt), Vorkommnisse geht es immer weiter nach unten, meist in langen Serpentinen.

Damit der Abstand zu meinen Mannen nicht zu groß wird, warte ich an manchen Spitzkehren wieder auf sie bzw. wir geben uns durch gegenseitige Handzeichen zu erkennen, den Standort des Anderen jeweils gesehen zu haben. Während des kompletten Abstiegs habe ich bis jetzt nie jemanden bemerkt, der an einer Spitzkehre auf jemanden gewartet hätte.

Weiter geht es dann erst, wenn zumindest der Letzte von uns in der Schlange mit Handheben reagiert hat (also die Vollzähligkeit überprüft ist). Unsere drei Träger herauszufinden ist den Umständen entsprechend einfach, denn diese sind die drei Einzigen mit Tragekörben. Ram prasad hat meinen knallorangen Rucksack, die Farbe hat auch fast ein Alleinstellungsmerkmal heute und Shukra Bir trägt neben der schwarzen Zelttasche auch sonst schwarz. Hat mich der Letzte von uns in der Schlange erkannt, dann muss ich die anderen vier zwischen mir und ihm suchen. Wenn ich mir zeitig eine übersichtliche Spitzkehre aussuche, dauert das ganze “Abscannen” und “Rückkoppeln” keine 10 Sekunden.

Irgendwann ist es dann soweit. Am Ende des Nebels sind unterhalb von mir einige Steinhütten mit angelagerten Terrassen erkennbar. Das müssten jetzt die Teehütten von Chabarbu bzw. Muktinath Phedi sein. Ich bin gleich auf 4200m Höhe angekommen, die Sichtbedingungen sind aber nur unwesentlich besser. Shukra Bir und der Rest dürften noch etwas weiter oben sein.

Zwischenstation in Chabarbu (Muktinath Phedi)

Wenn ich auf die Uhr schaue, dann ist es etwas nach 13:30 Uhr, es sind also gut 3,5 Stunden seit dem Pass vergangen, ohne Bummelzüge hätte dies alles wahrscheinlich mindestens eine Stunde weniger gedauert. Es befinden sich nur wenige Personen rund um die Hütten.

Soll ich hier warten oder die Reise gleich fortsetzen?

Hunger habe ich keinen, anstrengend ist es für mich inzwischen sowohl psychisch als auch physisch nicht mehr. Ich entschließe mich aber aus den 2013er Erfahrungen heraus zu warten, denn ich weiß nicht, wie erschöpft meine Mannschaft ist. Und so ewig lange dürfte es bis Muktinath auch nicht mehr dauern.

Als Erstes werden zunächst meine Kleidungsschichten wieder in die Originallage zurückversetzt. V.a. meine langen Liebestöter standen schon seit geraumer Zeit nur noch auf Halbmast, gehalten vom Schritt meiner Trekkinghose. Sie wären aber wenigstens sauber geblieben, wenn ich mir bis jetzt in die Hose gemacht hätte.

Ich beschließe in irgendeiner der Hütten mir ein Fanta zu gönnen, meine Thermoskanne mit warmem Wasser ist ja mit Ram prasad noch auf der Strecke. Im Eifer des Gefechts haben wir gar nicht mehr daran gedacht, dass ich meinen Tagesrucksack schon längst wieder selber tragen könnte.

Beim Bestellen der Fantaflasche kommen mir Selbstzweifel, ob das Verschwinden in einer Hütte eine so gute Idee war. Wenn jetzt Shukra Bir und der Rest einfach außen vorbeigeht und mich nicht sieht, warten die dann? Zügig versuche ich mit der gekauften Flasche wieder nach außen zu gehen, am Türeingang kommt mir aber schon Shukra Bir freudestrahlend entgegen.

Ich sage: »Tschuldigung, ich hätte draußen warten sollen, war keine gute Idee in einer Hütte zu verschwinden!«

Er antwortet: »Kein Problem, wir machen doch hier sowieso Pause, habe ich Dir doch gestern gesagt!«

Auch wenn ich all meine Hirnwindungen und Verstaubungsreservoire in der Kopfgegend durchsuche, diese Information muss sich bei mir aber verdammt gut versteckt haben, denn gesagt hat es mir Shukra Bir sicherlich.

Ich sage gleich zu Shukra Bir, dass er für alle Tee bestellen soll, auf meine Kosten, was er auch umgehend macht. Er bietet mir das mitgeschleppte Lunchpaket an. Ich gebe ihm aber zu verstehen, dass ich überhaupt keinen Hunger habe und das Lunchpaket dann später in Muktinath essen werde. Oder, falls jemand von der Mannschaft Hunger hat, dann darf er es selbstverständlich vertilgen.

Nur wie es mit meinem aktuellen Gesamtgewicht ausschaut, da gibt es doch so manche Zweifel. Die Handschuhe sind tropfnass, alle oberen inneren Kleidungslagen durchgeschwitzt. Bei meiner Daunenjacke habe ich das Gefühl, das ist inzwischen keine Daunenjacke mehr, sondern ein Warmwasserboiler, sie fühlt sich richtig schwer an.

Es dauert doch etwas, bis auch noch der Letzte von uns eingetroffen ist. Wir sind vollzählig und irgendwie ramponiert schaut auch keiner von uns aus, aber jeder, einschließlich meiner einer zusatzwassermassenmäßig doch wie ein begossener Pudel. Dafür gibt es aber von mir nochmal eine Runde heißen Tee spendiert für jeden von uns für den Magen.

Erstmals seit über 10 Stunden kann ich mich wieder an einer Mauer bzw. irgendwo anlehnen. Eine Abwechslung nach über 600 Minuten zu 100% der Zeit, mit Ausnahme der Schneeeinlagen, nur auf beiden Beinen stehen zu müssen.

Ich frage Shukra Bir: »Wie lange dürfte es heute bei den Bedingungen noch bis nach Muktinath dauern?«

Shukra Bir antwortet: »In deinem Tempo eine Stunde!«

Ich sage zu Shukra Bir, dass ich mir vor der Hütte etwas die Beine vertrete, in der Hütte ist es mir einfach zu viel geschäftiges Treiben. Kaum bin ich aus der Hütte heraus, sehe ich Richtung Pass blickend Leute die Spur zu den Teehäusern herabkommend, Leute die ich nur wenige Minuten vor meiner Ankunft hier in Chabarbu überholt habe. Man sind die grausam langsam! Da ist es ja bereits dunkel, bis die ersten Leute, die wir oben überholt haben, hier ankommen. Nicht gut. Gar nicht gut. Ganz und gar nicht gut!

Da müssten wir wahrscheinlich ewig warten, bis wir unsere “Zweitgruppe” von der Zeit der Markierungsstangensuche von weiter oben überhaupt wieder zu Gesicht bekommen würden.

Auch in der Hütte hier in Chabarbu ist die Mehrzahl der Trekker, wie schon zuvor am Pass, meist mit sich selbst schweigend im Gespräch vertieft. Immer noch in ihrer eigenen Welt und Horizont gefangen.

Nachdem sich von uns alle ausreichend erholt haben, starten wir gegen 14:15 Uhr mit dem Weiterweg hinab nach Muktinath.

Die Sicht hat sich inzwischen etwas gebessert, statt 50-100m sind es inzwischen doch schon gut 150m Sichtweite geworden.

Beim Blick aus dem doch etwas dunklem Teehaus habe ich vor wenigen Minuten noch fast gedacht, es scheint die Sonne, so war der Helligkeitsunterschied zwischen Innen und Außen. Es war aber nur eine optische Täuschung.

Nun stellt sich für mich die Frage: Handschuhe wieder anziehen oder nicht?

Sie sind restlos durchnässt, auch bei meiner Daunenjacke vermute ich die aktuelle Winddichtheit auch nur noch aufgrund neu eingelagerter Wassermassen im Daunenbereich. Mit nassen Handschuhen weitergehen wäre ja nicht das Problem, aber entweder sind meine Hände jetzt gewachsen oder die Handschuhe sind geschrumpft.

Schon das Anziehen des ersten linken Handschuhs artet in einem Gewaltakt aus, da bin ich aber auf der rechten Hand noch handschuhlos. Wie soll das jetzt beim rechten Handschuh mit bereits angezogenem linkem Handschuh auf der Hand funktionieren? Irgendwie rutsche ich mit den Fingern immer wieder ab. Ich entscheide den weiteren Weg zunächst ohne Handschuhe zu probieren.

Ich habe mir zwar in Jugendjahren einmal Erfrierungen an beiden Handrücken eingehandelt gehabt, einen Umstand, den ich wirklich niemanden wünsche, und bin somit eigentlich vorsichtig, die aktuellen Bedingungen lassen mich aber einen Versuch wagen. Glücklicherweise hat meine Daunenjacke auch eine Fleecestulpe im Ärmel, diese kann dann die Handrücken behelfsmäßig abdecken. Da muss ich eben genau aufpassen, ob es so funktioniert. Die Bedingungen sind aber aktuell so, dass es fast windstill ist und nur noch ein sporadischer Schneefall vorherrscht.

Weiter nach Muktinath

Bei der Ankunft in Chabarbu ist mir eigentlich keine Spur aufgefallen, die talwärts führt. Ich muss aber auch eingestehen, ich habe nicht explizit danach Ausschau gehalten.

Die einzelnen Teehäuser hier sind terrassenförmig nebeneinander gebaut, umfriedet immer mit einer niedrigen Steinmauer. Verbunden sind die Areale immer über Treppen. Nur an diesen Treppen ist es inzwischen spiegelglatt, da hilft auch ein übertriebener Hackeneinsatz mit den Schuhen nur noch sehr bedingt. Also heißt es jetzt sich vorsichtig die meist wenigen Stufen auf das Niveau des nächsttiefer liegen Teehauses zu hangeln.

Was mir heute überhaupt nicht auffällt: Chabarbu ist an einem großen Felsvorsprung gebaut. Der Schnee verdeckt heute alle Felskonturen. Für mich hat es irrtümlich den Anschein, wir sind hier heute auf einer Hochalm.

Der Verlauf der Spur ab jetzt unterscheidet sich in seinem Verlauf deutlich von der Spur oberhalb von Chabarbu. Waren es oberhalb meist dem Gelände angepasste Serpentinen, oft auch mit kleinen Loops im Gegenhang, so geht es unterhalb des Ortes in gleichmäßigem Gefälle fast in gerader Linie weiter, Richtungsänderungen meist nur in langgezogenen Kurven. Etwaige Hindernisse werden in direkter Linie angesteuert und dann auf kürzestem Wege überwunden bzw. durchschritten, also nicht in Z- oder S-Form.

Auf der Strecke ist es fast menschenleer. Ok, ein paar wenige Bummelzugfans muss man immer mal einkalkulieren. Aber es findet sich zwischendurch auch eine kleine Gruppe, wo der Frontmann trotz Stockeinsatz ein sauberes Tempo vorlegt und die folgenden Personen ohne Stürze problemlos im 5 Meter Abstand folgen können. Ich erspare mir hier zunächst das Überholen, erst als die Gruppe eine kleine Pause macht, nehme ich diesen Vorgang in Angriff.

Inzwischen ist die Sicht soweit gediegen, dass man erstmalig auch etwas von der linken Bergflanke in Laufrichtung sieht. In Richtung Muktinath ist es immer noch eine weiße Wand, zwar jetzt mit mehr Respektsabstand, aber einen Horizont haben wir immer noch nicht.

Eigentlich hätte ich erhofft, hier zumindest die gegenüberliegende Bergwelt im Ansatz und somit auch die Schneegrenze sehen zu können, aber davon gibt es aktuell noch überhaupt nichts im Angebot.

Also gehe ich jetzt einmal davon aus, dass der Schnee bis Muktinath so weiter geht. Ein Schnee, der meine Schuhe immer noch fast gänzlich von eindringenden Wassermassen verschont, nur die Schuhspitzen sind etwas angefeuchtet.

Auch der weitere Abstieg bei mir ohne Handschuhe an den Händen funktioniert. Die Hände fühlen sich warm an, auch meine Handrücken machen auf mich einen gut durchbluteten Eindruck.

Ohne Komplikationen geht es immer weiter talwärts, nur vereinzelt ganz sehe ich Menschen, der eingeschlagene Weg dürfte also nicht unbedingt falsch sein. Nur jetzt gibt es mit der Spur jetzt ein kleines Problem, es gibt eine Abzweigung und welche Spur ist nun die Richtige davon? Ein Weg geht geradeaus weiter, der zweite Weg geht im rechten Winkel ab in Richtung der linken Hangseite.

Jetzt ist guter Rat teuer, geradeaus oder links?

Ist eine Spur nur eine Sackgasse, eine ungewollt verlängerte Abkürzung oder geht nur ein Weg nach Muktiniath?

Der „Austretungszustand“ beider Wege ist gleich, meine Mannen sind deutlich hinter mir, warten und fragen?

Am Übergang zum Nebel sehe ich gut 100m gerade voraus, dass sich anscheinend Schatten nach links bewegen. Als Folge entscheide ich mich, der linken Spur zu folgen und nicht zu warten. Es hat den Anschein für mich, die Spur geradeaus ist eine Sackgasse.

Nach 100m auf der neuen Spur ist für mich deutlich ersichtlich, ich bin auf dem richtigen Wege, denn rechter Hand ist immer mehr ein quer zum Hang verlaufender tiefer Taleinschnitt zu erkennen. Vermutlich war beim Erstanleger der Spur die Sicht schlechter und er erkannte den Irrweg erst kurz vor der Abbruchkante.

Eigentlich habe ich vermutet, die Spur würde von Muktinath nach Chabarbu angelegt worden sein, der aktuelle Irrweg überzeugt mich aber vom Gegenteil. Der gespurte Weg dürfte aber nicht der sonst übliche Weg sein.

Hätte ich an der Abzweigung eine Schneeanhäufung machen sollen, um die Spur geradeaus zu „sperren“?

Da ich aber sehe, dass der Irrweg nur aus einer Gerade ein Dreieck macht, erspare ich mir den Rückweg.

Von der zeitlichen Abfolge (wer war zuerst da) der zwei folgenden Talquerungen bin ich mir nicht mehr sicher. Eine Talquerung ist über eine Hängebrücke, die zweite erfolgt mittels Durchquerung des Tals und Querung eines Bachbetts über Steine, auf der gegenüberliegende Seite geht es dann an einer Wasserleitung entlang.

Später, nach einer weiteren Linkskurve taucht dann das oberhalb von Muktinath gelegene große Hinweisschild über den Ort auf und erstmals ist der Nebel weg, zumindest unterhalb von 3600m ü.NN.

Es ist jetzt einige Minuten nach 15 Uhr.

Zu sehen ist eine immer noch tiefliegende Wolkendecke. Aber die aktuelle Schneegrenze ist deutlich zu erkennen. Es liegt auch noch in tieferen Lagen unterhalb von Muktinath Schnee, nochmals unterhalb davon ist es nur noch grau, dies müsste dann eigentlich in Richtung Kali Gandaki Tal sein. Linkerhand ist einsam und verlassen ein umfriedeter Bereich zu sehen, mit ein paar älter wirkenden Gebäuden, dass dürfte dann der Tempelkomplex von Muktinath sein. Den habe ich mir eigentlich größer und pompöser vorgestellt und einen größeren Verbindungsweg vom unterhalb des Tempelkomplexes zu erkennenden Hauptort Ranipauwa (der gern auch Muktinath genannt wird) ist auch nicht zu sehen.

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Achtung FOTOMONTAGE !!! Bild ist erst am Folgetag in der Nähe des Muktinath Tempels entstanden. Es soll grob zeigen, wie die Sichtbedingungen am 14.10.2014 gegen 15 Uhr waren - Himmel war heller - Hügel im Tal wesentlich dunkler

Um in den Hauptort gelangen zu können, müssen wir den Weg entlang der Mauern des Tempelkomplexes nehmen.

Die Schneehöhe hat sich zwar inzwischen deutlich verringert, aber es wird auf den bereits benutzten Pfaden glitschig und langsam treten auch erste Matschpfützen in Tateinheit mit Glatteis auf.

Wenn jetzt der Matsch die Überhand gewinnt, dann ist es vorbei mit den trockenen Wanderstiefeln, denn an irgendeiner Naht findet der Matsch immer seinen Weg ins Schuhinnere. Aber da muss man jetzt durch.

Schwieriger als erwartet wird der Weg aus Schnee, Matsch und Glatteis bis zum „Stadttor“ von Muktinath. Hier erwartet uns schon ein Uniformierter und fragt Shukra Bir: »Seid Ihr über den Pass? Ich hab schon gedacht, der ist heute geschlossen. Bis jetzt ist noch fast niemand hier angekommen!«.

Als mir Shukra Bir diese Konversation direkt im Anschluss erzählt, denke ich mir mit Blick zum Uniformierten: “Junge, was hast Du heute für ein Gras geraucht?”

In Muktinath angekommen

Im tiefsten Matsch und kaum auszuweichenden 10cm tiefen Wasserpfützen auf und neben der Straße, wobei auf und neben der Straße nicht zueinander abgegrenzt werden kann, geht es weiter in den Ort hinein.

Der Ort wirkt bei unserer Ankunft touristisch wie ausgestorben. Nur Einheimische sieht man, oft die Schneemassen der letzten 24 Stunden sortierend. Es werden Eingänge wieder zugänglich gemacht und die (Flach-)Dächer vom Schnee befreit , ein in irgendeiner Art organisierter Winterdienst ist nicht erkennbar. An manchen Flachdächern sind es manchmal auch mehr als 5 Personen, die mit kleinen Schaufeln bewaffnet versuchen, den Schnee vom Dach zu werfen.

Einquartiert werde ich heute im Royal Mustang Hotel, insgesamt werden wir da nur zwei Gäste sein. Im Ort gibt es wegen des Schnees keinen Strom. Meine Mannschaft macht es sich im Hinterhof “gemütlich”, zugfrei und mit einem Dach über dem Kopf.

Noch vor dem Betreten des Hotels spricht mich Shukra Bir an: »Am Checkpoint haben sie mir gesagt, dass sie 12 Touristen und 40 Nepali vermissen. Ein Guide hat mich auch angesprochen, dass ihm ein Kunde und zwei Träger abgehen!«.

Ich antworte verdutzt: »Reden die vom Pass hier oder von der Annapurnaregion oder ganz Nepal?« und erhalte zunächst keine Antwort von Shukra Bir, so dass ich weiter spreche: »Bis zum Pass war es zwar nicht unbedingt einfach aber später geht doch eine Spur hinab. Da wird es noch sehr spät werden bis heute alle eintreffen!«

Im eiskalten Hotel, die Stromradiatoren funktionieren wegen des Stromausfalls aufgrund der Folgen an Schneemassen nicht, habe ich die freie Auswahl beim Zimmer. Ich scheine der einzige Gast zu sein. Endlich wieder ein Dach über den Kopf und die ganze Sache einmal etwas setzen lassen. Ausgepowert fühle ich mich überhaupt nicht, “Rücken und Knie habe ich auch nicht”, aber die nächsten Dinge nehme ich in etwas gemütlicherer Geschwindigkeit vor.

Zunächst muss ich erst einmal raus aus den nassen Sachen, meine Daunenjacke gleicht einer wassergefüllten Plastiktüte mit Inhalten tierischen Ursprungs. Statt 1,5kg hat sie jetzt sicherlich 4-5kg.

Als Shukra Bir fragt, wann es den Fünf-Uhr-Tee geben solle, deute ich ihn an, dass sie sich alle zuerst einmal richtig sortieren sollten und die nassen Sachen trocknen und dann halt irgendwann mal den Tee machen können. Eine Stunde Hin oder Her ist doch absolut egal.

Ich frage Shukra Bir weiter: »Braucht Ihr warmes Wasser zum Händewaschen?«, er antwortet, »Hast Du welches?«, ich erwidere, »Geh einmal zum Handwaschbecken im Flur und halte deine Hände über das Becken!«. Ich nehme meine Daunenjacke, halte sie über seine Hände und winde sie etwas aus. Lauwarmes Wasser ergießt sich über seine Hände und Shukra Bir schaut mich sichtlich perplex an. Ich sage zu ihm »No! I’m not a warm brother!«.

Weitere Kleidungsstücke von mir sind zwar auch durchnässt, aber nicht so schlimm wie meine Daunenjacke. Im Tagesrucksack ist es sogar relativ trocken. Und meine Reisetasche hat ihren Inhalt gänzlich trocken gehalten, auch wenn es geheißen hat, der Reißverschluss der Tasche sei nur wasserabweisend. Die Strümpfe in den Schuhen sind wegen des Schneematsches etwas klamm geworden, die Schuhe selbst sind innen aber noch trocken. Bei meiner Trekkinghose entscheide ich mich, diese nach dem Ausziehen der langen Liebestöter wieder anzuziehen. Wegen der Regenhose ist sie nur an manchen Stellen etwas schweißnass, bei 100% Luftfeuchte hilft auch bestes Gore-Tex nix. Und im getragenen Zustand trocknet sie heute ohne Ofen oder Heizung noch am schnellsten.

Nachdem ich meine Nässlichkeiten etwas sortiert habe, erscheint Skukra und fragt: »Hast Du für uns etwas zum Anziehen, es ist bei uns alles nass!«. Ich gehe mit ihm zu meiner offenen Reisetasche und sage zu ihm: »Bedient Euch!«. Aus Pietätsgründen verzichte ich später auf ein Foto von manch einem von meiner Mannschaft, kann aber dazu sagen: Gut 1,6m große Rais schauen in deutscher XXL-Kleidung manchmal schon etwas drollig aus.

Der Fünf-Uhr-Tee lässt dann nicht mehr lange auf sich warten, das Teegebäck ist mein erstes Essen seit heute 4 Uhr. Jetzt bemerke ich auch, dass noch ein weiterer Gast im Hotel ist. Er bringt einen ganzen Schwung an nassen Kleidern, seine nassen Schuhe und seinen nassen Rucksack in den Essraum und ein Bediensteter des Hotels versucht an einem Heizstrahler eine Gasflasche anzubringen, scheitert aber zunächst an den unpassenden Anschlüssen.

Als einzige Gäste kommen wir Beide schnell ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass er kaum 60km von mir entfernt wohnt und er heute auch über den Pass gegangen ist. Alleine und ohne Träger. Bei ihm sei die ganze Ausrüstung nass und er müsse sie irgendwie jetzt trocken bringen. Es wird in den nächsten Stunden eine abwechslungsreiche Unterhaltung. Er erzählt mir, er konnte im letzten Jahr nur mit Verzögerung den Pass machen, weil es so geschneit hatte. Nachdem ich ihn erklärt habe, dass ich letztes Jahr rund um den Everest das gleiche Problem hatte, sage ich zu ihm: »Tja und wieder ist Oktober der 14.!«

Wir sprechen auch über die Bedingungen am heutigen Tag und sind einhellig der fränkischen Meinung (ans Hochdeutsche angelehnt): „Jeden Tag braucht es Das nicht!“, der Franke meint aber hier eher „Gut es einmal erlebt zu haben, aber einmal im Leben reicht“. Den tatsächlichen Informationsgehalt der Aussage über die vermissten Personen, können wir beide nicht einordnen. Vor allem auch deshalb nicht, weil im Ort keine anormale Hektik vorherrscht, es ist eigentlich Totenstille, und auch sonst nichts darauf hindeutet, dass etwas organisiert wird oder organisiert werden müsste.

Das Abendessen schmeckt wie immer vorzüglich und Shukra Bir erzählt wie stolz er ist, dass wir alle ohne die kleinste Blessur hier angekommen sind und wie stolz er ist, für solch eine auf Sicherheit bedachte Agentur arbeiten zu dürfen.

Ich gönne es ihm von ganzem Herzen, dass er sich fühlt, als wäre er jetzt 2,5m groß. Er sagt, er könne nur aktuell nicht bei der Agentur anrufen und die Passüberschreitung mitteilen, da wegen des Stromausfalls auch kein Handy funktioniert.

Meinem Vorschlag, morgen nicht wie geplant nach Jomsom weiterzugehen und stattdessen einen Schwenk über Kagbeni zu machen, ist er nicht abgeneigt. Wir können dabei unseren Sicherheitstag nutzen. Kagbeni liegt 1000m tiefer, bis Mittag dürften wir nach dem Besuch des Muktinath Tempel dort eintreffen und den Nachmittag dann zum Trocknen und Reinigen der Ausrüstung nützen. Tags drauf würde es dann nicht nur bis nach Jomsom, sondern gleich noch weiter bis nach Marpha gehen.

In fast schon überheblicher Manier sage ich zu Shukra Bir: »Bis jetzt war die Tour Arbeit, ab jetzt beginnt der Urlaub!«.

Dass diese Aussage, was den “Urlaub” betrifft, meist nur körperlich möglich sein wird, psychisch in den nächsten Tagen aber noch ganz andere Hämmer auftreten werden und diese nicht an den nun folgenden Wanderstrecken oder Umgebungsbedingungen liegen werden, von dieser Erkenntnis sind wir am heutigen Abend noch weit entfernt.

Oder doch näher als es einem lieb ist?

 

Tagesdaten: Start: Thorong La High Camp (4890m ü.NN) - 5:15 Uhr, Ziel: Muktinath (3760m ü.NN) - 15:30 Uhr, ↑526m, ↓1670m

 

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